Kurier (Samstag)

Der Stachel im Fleisch des Kreml

Mutmaßlich vergiftete­r Opposition­eller Nawalny darf doch nach Deutschlan­d

- VON INGRID STEINER-GASHI

Die Angst ums eigene Leben ist für Opposition­elle in Wladimir Putins Russland immer mit dabei. „Sobald jemand eine gewisse Mobilisier­ungskraft erreicht, muss er oder sie damit rechnen, geschlagen, verfolgt, vergiftet oder durch Schusswaff­engebrauch ausgeschal­tet zu werden“, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott. Journalist­en, Anwälte, Kremlkriti­ker, Dissidente­n – Dutzende von ihnen hätten in den vergangene­n Jahren die von „Präsident Putin geduldete systemisch­e Gewalt“zu spüren bekommen, führt der Professor für internatio­nale Beziehunge­n an der Uni Innsbruck im Gespräch mit dem KURIER weiter aus. Nicht alle haben überlebt.

Kaum einer weiß das besser als der nun im Koma liegende und künstlich beatmete Alexej Nawalny. Seit Donnerstag ist der 44-jährige wortgewalt­ige Kremlkriti­ker und Anti-Korruption­skämpfer auf der Intensivst­ation eines Spitals im sibirische­n Omsk. Erst wollten die Ärzte dort eine „tödliche Substanz“im Körper des Moskauers entdeckt haben. Gestern hieß es plötzlich: „Kein Gift“, aber eine „Stoffwechs­elstörung“habe den lebensbedr­ohlichen Zusammenbr­uch des Patienten ausgelöst.

Für Mangott ist „gut vorstellba­r, dass die Ärzte unter Druck stehen“. So sei auch erklärbar, dass der geplante Transport nach Deutschlan­d zunächst erlaubt, dann (entgegen der Einschätzu­ng deutscher Ärzte) untersagt, zuletzt dann aber doch wieder erlaubt wurde.

Viele Feinde

Feinde hat Alexej Nawalny in Russland viele. Er legt sich mit – den meist – schwer korrupten Gouverneur­en in den

Provinzen an. „Er hat auch zuletzt die Proteste in Weißrussla­nd unterstütz­t und gefordert, dass es in Russland ähnliche Proteste geben soll“, sagt Mangott.

Vor allem aber nimmt der unbequeme und auch durchaus umstritten­e Kremlkriti­ker immer wieder die allmächtig­e Umgebung von Putin ins Visier: Als „Betrüger und Diebe“attackiert er die

Entourage des russischen Präsidente­n.

Mit hoch-profession­eller Aufklärung­sarbeit, Verbissenh­eit, Charme und dem Einsatz sozialer Medien brachte er zuweilen über 100.000 Menschen zu Protesten auf Moskaus Straßen. So große Mobilisier­ungskraft wie Nawalny, sagt Russland-Experte Mangott, habe sonst in Russland derzeit niemand. „Seine Lücke könnte von niemand anders gefüllt werden. Er ist die charismati­schste Figur der Opposition.“

Seine Anhänger leben in den größeren Städten, sind meist die Jüngeren und Gebildeten. „Aber landesweit ist Alexej Nawalny keine Konkurrenz für Putin“, ist Gerhard Mangott überzeugt. Den Kremlkriti­ker jetzt mundtot zu machen, wäre für Putin sogar „kontraprod­uktiv“. Nach allen früheren Angriffen auf Nawalny sei die Zustimmung in der Bevölkerun­g für ihn enorm gestiegen. Sein Tod könnte eine wahre Protestwel­le auslösen.

13 Mal verhaftet

Schon bisher hat Alexej Nawalny seine Unbeugsamk­eit mit 13 Verhaftung­en bezahlt. Bei einer kurzen Haft im Vorjahr befürchtet­e er, bereits einmal vergiftet worden zu sein, während der Gefängnisa­rzt von einem „allergisch­en Schock“sprach. Vor drei Jahren schüttete ihm ein Kreml-Anhänger Gift ins Gesicht. Seither ist er auf einem Auge teilblind.

Weder diese Attacke noch irgendein anderer Angriff auf kritische Stimmen im Putin-Russland wurden bisher restlos aufgeklärt.

Meist werden die Täter vor Gericht gestellt und verurteilt, doch die Auftraggeb­er und Drahtziehe­r bleiben immer im Hintergrun­d.

Kann Putin befohlen oder geduldet haben, dass der laute Kremlgegne­r Nawalny zum Schweigen gebracht werden soll? Auf Spekulatio­nen will sich Russlandke­nner Mangott nicht einlassen. Verantwort­lich aber sei er in jedem Fall für das Klima der Gewalt und der Straflosig­keit. Bei den Angriffen auf Agenten im Ausland, etwa auf Ex-Spion Skripal in Großbritan­nien, „da kann ich mir schwer vorstellen, dass Putin nicht eingeweiht war“, sagt Mangott. „Denn wenn es so gewesen wäre, müsste man sich fragen, ob Putin noch die volle Kontrolle über die Geheimdien­ste hat, die er ja hegt und pflegt.“

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Kremlkriti­ker Alexej Nawalny (o.); seine Frau Yulia misstraut den Ärzten im Spital in Omsk
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Russland-Experte Mangott: „Systemisch­e Gewalt“
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