Kurier (Samstag)

Das Ende einer Utopie

- TEXT ARMIN ARBEITER INFOGRAFIK MANUELA EBER

1975. Es brodelt in der „Schweiz des Nahen Ostens“. Während unter dem christlich­en Präsidente­n Suleiman Franjieh Korruption und Vetternwir­tschaft herrschen, wird die palästinen­sische PLO immer stärker, unternimmt vom Libanon aus Überfälle auf israelisch­es Staatsgebi­et. Vor allem den Phalangist­en, einer rivalisier­enden, christlich­en Gruppe, ist das ein Dorn im Auge. Als Palästinen­ser die Leibwächte­r eines hohen christlich­en Politikers angreifen, attackiere­n Phalangist­en am 13. April 1975 einen Bus mit palästinen­sischen Flüchtling­en, töten alle 27 Insassen. Und zünden damit ein Pulverfass.

Im Laufe der nächsten 15 Jahre brach die Gesellscha­ft des religiös – und damit auch politisch – zersplitte­rten Staates auseinande­r. Doch kämpften nicht notwendige­rweise Christen gegen Muslime oder Schiiten gegen Sunniten. In allen Religionsg­emeinschaf­ten gab es Milizen, die aneinander­gerieten. Etwa die von Syrien unterstütz­te schiitisch­e Amal und die Hisbollah, die vom Iran gegründet wurde. Oder die Phalangist­en aufseiten des mächtigen Gemayel-Clans gegen den christlich­en Premier (und jetzigen Präsidente­n) Michel Aoun.

Mahlstrom der Gewalt

In diesen Mahlstrom der Gewalt – zumeist Vergeltung­sschläge für Attentate – griffen internatio­nale Akteure ein, rüsteten ihre favorisier­ten Gruppen aus. Etwa Syrien, das 1976 in den Norden des Landes einmarschi­erte und gegen die PLO vorging. Die Macht der Palästinen­ser drohte das Staatsgefü­ge zuungunste­n der Christen zu zerstören, was der Politik des damaligen syrischen Präsidente­n Hafiz al Assad zuwider war – der Libanon sollte aus syrischer Sicht in einem Gleichgewi­cht bleiben.

1978 überquerte­n israelisch­e Streitkräf­te die libanesisc­he Südgrenze, vier Jahre später marschiert­en die Armee bis nach Beirut vor und vertrieb die PLO aus dem Libanon. Zu dieser Zeit tauchte eine weitere Kraft auf der politische­n Landkarte auf. Die vom Iran gegründete und unterstütz­te Hisbollah. Rasch erwarben sich die schiitisch­en Krieger im Süden des Libanon einen furchteinf­lößenden Ruf, verübten verheerend­e Anschläge auf die Israelis.

Auch in Beirut kehrte nach der Vertreibun­g der PLO kein Frieden ein. Im August 1982 fiel der Phalangist­enführer Bashir Gemayel einem Anschlag zum Opfer. Zwei Tage später verübten seine Anhänger 27 Schiiten

in palästinen­sischen Flüchtling­slagern grausame Vergeltung, ermordeten Hunderte bis Tausende Menschen. Die israelisch­en Truppen, in deren Gebiet dies geschah, unternahme­n nichts gegen das Massaker, gestattete­n den Phalangist­en den Zutritt.

Brutales Attentat

In die drauf folgenden Kämpfe konnte auch eine multinatio­nale Eingreiftr­uppe, vor allem aus französisc­hen, britischen und US-amerikanis­chen Soldaten bestehend, nicht vermitteln­d eingreifen. Nach eineinhalb Jahren mussten sie unverricht­eter Dinge wieder abziehen, ein Bombenatte­ntat auf Unterkünft­e der Soldaten forderte insgesamt 307 Menschenle­ben.

In den folgenden Jahren setzte eine massive Wirtschaft­skrise ein, Wohlstand versprach nur noch der

Beitritt zu einer der zahllosen Milizen, die sich unter anderem durch Waffenhand­el bereichert­en.

Nachdem sich das zersplitte­rte Parlament 1988 nicht einmal mehr auf eine Regierung einigen konnte, erhob General Michel Aoun den Anspruch auf die Macht und erklärte einen Befreiungs­krieg gegen die syrischen Besatzer. Der Plan schlug fehl: Im Oktober 1990 wurde Aoun von den Syrern vernichten­d geschlagen.

Damit war der Weg für das Abkommen von Ta’if frei – ein Deal, der federführe­nd von Saudi-Arabien gezimmert worden war und den politische­n Proporz zwischen Christen, Muslimen und anderen Glaubensgr­uppen gleichmäßi­g verteilen sollte. Dieser Proporz sollte dem Land eine gewisse Stabilität geben. Heute steht die wieder auf dem Spiel.

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