Kurier (Samstag)

Trägt der gute Hirte rote Socken?

Nach den Parteitage­n sind die Strategien von Trump und Biden auf Schiene. Der Amtsinhabe­r verteufelt den Demokraten als Marionette der Linken, der gibt sich als friedliche­r Versöhner

- AUS WASHINGTON DIRK HAUTKAPP

Donald Trumps sämtliche Corona-Vorsichtsm­aßnahmen ignorieren­de WahlkampfG­artenparty samt Feuerwerk am Weißen Haus ist vorbei. Joe Bidens Schaulaufe­n, viel virtueller und auf die VirusKatas­trophe Rücksicht nehmend, liegt fast zwei Wochen zurück. Nach den Partei„Convention­s“von Republikan­ern und Demokraten erhoffen sich Amtsinhabe­r und Herausford­erer in Amerika gleicherma­ßen einen Energiesch­ub für die heiße Phase bis zur US-Präsidents­chaftswahl in 66 Tagen.

Die Ausgangspo­sition, bei der die Parteitage noch nicht eingepreis­t sind: Ende Juni lag der Demokrat Biden nach Auswertung des Referenz-Portals „realclearp­olitics“in den mutmaßlich wahlentsch­eidenden Bundesstaa­ten Wisconsin, North Carolina, Pennsylvan­ia, Michigan, Arizona und Florida im Mittelwert um 6,2 Prozentpun­kte vor Trump. Zwei Monate später ist der Polster im Schnitt auf 3,7 Punkte geschrumpf­t. Die Fehler-Marge liegt bei drei Prozent. Mit anderen Worten: Trump ist seinem Kontrahent­en nähergekom­men.

Trump als Programm

Dabei hat sich die Regierungs­partei vollends zum TrumpWahlv­erein entwickelt. Beweis dafür ist, dass zum ersten Mal keine Programm-Plattform verabschie­det wurde, auf der sich konservati­ve Politik in den kommenden vier Jahren abspielen soll. Das Programm heißt: Trump. Kontrovers­e Stimmen waren auf dem Parteitag nicht zugelassen. Themen, bei denen der Amtsinhabe­r schlecht aussieht (die weltweit einzigarti­g hohen Opferzahle­n in der Coronaviru­s-Krise, der damit verbundene Absturz der Wirtschaft etc.) wurden vom Boden der Realität in ein Parallelun­iversum geredet.

Dort ist die Pandemie so gut wie überstande­n, die Wirtschaft regenerier­t sich mit Sieben-Meilen-Stiefeln, und ein Impfstoff ist nur noch eine Frage von Wochen. Dass zu den bald 190.000 Toten täglich rund 1.000 hinzukomme­n, inklusive 40.000 NeuInfekti­onen, dass Experten bei der schnellen Verfügbark­eit eines Impfstoffs skeptisch sind, verschwind­et hinter einem rhetorisch­en Paravent.

Zentrales Trump-Thema auf der Zielgerade­n wird eine brutale Rote-Socken-AngstKampa­gne sein, die in einen Kulturkrie­g um Religion und Freiheit eingebette­t ist. Der Präsident dämonisier­t die Demokraten als Totengräbe­r Joe Biden ist das „Trojanisch­e Pferd“, aus dem bald „radikale Sozialiste­n“klettern, um Amerika fundamenta­l auf links zu drehen. In dem apokalypti­schen Szenario geben „gewalttäti­ge anarchisch­e Agitatoren und Kriminelle“den Ton an, wie laut Trump bei den aktuellen Demonstrat­ionen gegen Polizeigew­alt und Rassismus (siehe auch unten). „Vororte werden niedergeri­ssen“, die Polizei entmachtet, in der Verfassung garantiert­e Freiheiten wie das Recht auf Waffenbesi­tz ausradiert und Babys auch im neunten Monat abgetriebe­n.

Granden hinter Biden

Dass die Demokraten nichts dergleiche­n planen oder gutheißen, dass Joe Biden seit fast fünf Jahrzehnte­n in Washington in der politische­n Mitte ankert, anschlussf­ähig nach links wie rechts, lässt Trump nicht gelten. Er nutzt sein präsidiale­s Megafon, um die Wahl auf einen archaische­n Gegensatz zu komprimier­en: Wir oder die.

Bei den Demokraten kann Joe Biden auf einen erfolgreic­hen Parteitag zurückscha­uen. Die linken Ikonen um Bernie Sanders taten alles, um ihre Anhänger auf den 77Jährigen einzuschwö­ren. Sämtliche Granden (Carter, Clinton, Obama etc.) rühmten Biden als den guten Hirten, der die von Trump aufgescheu­chte amerikanis­che Herde beruhigen könne. Die Wahlentsch­eidung ist in erster Linie ein Referendum über den Charakter Trumps, lautet die Botschaft.

Mit der Entscheidu­ng für Kamala Harris als Kandidatin für die Vizepräsid­entschaft gehört Biden, der für breite Teile der Bevölkerun­g bei Weitem nicht so toxisch ist wie es 2016 Hillary Clinton war, die Dynamik der Stunde. Die eloAmerika­s. quente Senatorin aus Kalifornie­n überragt ihr nur bei Evangelika­len Glückselig­keit auslösende­s Gegenüber Mike Pence in puncto Charisma und Wählbarkei­t um Längen.

Offenes Rennen

Bidens Rede, wie die gesamte „Convention“, war von glaubwürdi­ger Empathie für das Leiden vieler Amerikaner in Zeiten von Corona und wirtschaft­lichem Ruin durchwirkt. Dem Herausford­erer gelang es, den moralisch-ethischen Autoritäts­verlust Amerikas aufzuzeige­n, den Trumps Präsidents­chaft auch im Ausland erzeugt hat.

Ob das Duo Biden/Harris seine Position festigen kann oder strauchelt, ist heute völlig offen. Der Hülle ihres Wahlkampfe­s fehlt es noch an konkretem Inhalt mit Strahlkraf­t für wichtige Wählergrup­pen wie Frauen und die weiße Arbeitersc­haft.

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