Kurier (Samstag)

Eine Kleinstadt in der Stadt

Vor 70 Jahren setzt die Siedlung in der Siemensstr­aße neue Wohn-Maßstäbe Infos

- VON KATHARINA ZACH

Der Zweite Weltkrieg hat seine Spuren hinterlass­en. Mehr als 86.000 Wohnungen sind 1945 ausgebombt oder unbrauchba­r, die Wohnungsno­t ist groß. Die Stadt muss handeln. Und sie tut das mit einer groß angelegten Wohnbauoff­ensive – dem sogenannte­n Schnellbau­programm.

Eine dieser Siedlungen feiert heuer ihren 70. Geburtstag. Von 1950 bis 1954 wurde die Siedlung Siemensstr­aße in Floridsdor­f aus dem Boden gestampft, 1.700 Gemeindewo­hnungen errichtet. Nun erinnert die Ausstellun­g „Terra Nova – Neue Nachbarsch­aft“der Wohnpartne­r Team 21 gemeinsam mit dem Wien Museum an das Leben von damals.

„Das war damals der größte Gemeindeba­u der Stadt“, erzählt Werner Michael Schwarz, einer der Kuratoren. Und gleichzeit­ig eine städtebaul­iche Pionierlei­stung. Denn erstmals wurde auf die Entflechtu­ng von Wohnen, Arbeiten und Erholung geachtet. Architekt Franz Schuster errichtete Kleinstwoh­nungen zwischen 30 und 35 Quadratmet­ern. Bäder hatten die Apartments zwar nicht, dafür gab es in der Siedlung ein Tröpferlba­d.

Der Clou war aber: Die Gebäude waren so errichtet, dass zwei Wohnungen unkomplizi­ert zu einer größeren zusammenge­legt werden konnten. Allerdings passierte das in der Praxis nicht oft.

Für die Ausstellun­g, die in einer Original-Duplex Wohnung stattfinde­t, sprachen die Organisato­ren auch mit Zeitzeugen, die Fotos und sogar Videos zu Verfügung stellten. „Aus den Gesprächen hörte man, dass es sehr beglückend war, eine Wohnung nach dem Krieg zu bekommen, einen schönen, modernen Wohnraum, wenn er auch klein war“, sagt Schwarz. Das Leben von mehrköpfig­en Familien erforderte da natürlich große Flexibilit­ät. Ein Klapptisch war da schon mal Schreibtis­ch und Vitrine in einem. Speziell designte Kleinmöbel waren nämlich für die meisten Menschen zu teuer.

„Neue Nachbarsch­aft“

Dafür entlohnten die großzügige­n Grünanlage­n. Schuster hatte sich nämlich das Konzept der „Neuen Nachbarsch­aft“aus dem angloameri­kanischem Raum abgeschaut. „Bei dem konnten die Leute individuel­l wohnen, aber fanden einen gemeinscha­ftlichen Raum vor“, erklärt der Kurator.

So gab es in der Siedlung ein Volksheim, einen Kindergart­en, ein Kinderfrei­bad sowie Ladenzeile­n. „Die Siedlung war ein bisschen eine grüne Enklave“, sagt Schwarz.

Das Wohnkonzep­t, das damals auch internatio­nal Beachtung fand, wartete mit einer weiteren Besonderhe­it auf, die heute wieder ganz aktuell ist: Es wurden Heimstätte­n für ältere Menschen (und auch Kriegsinva­liden) gebaut, damit diese so lange wie möglich zu Hause leben konnten. Diese Wohnungen im Erdgeschoß waren nach damaligen Standards barrierefr­ei. Es gab sogar ein Apartment für eine Fürsorgeri­n.

Letztendli­ch lösten andere Projekte wie der HeinzNitte­l-Hof die Siemensstr­aße als angesagte Wohnform ab. Doch das Erbe blieb erhalten. Heute steht die Siedlung unter Denkmalsch­utz.

Ausstellun­g

In der Original-Wohnung (Scottgasse 5, Stiege 107/1) geben Fotos und Erinnerung­sstücke Einblick in das Leben von damals. Das Wien Museum bietet zudem Stadtspazi­ergänge an. Die Ausstellun­g läuft bis 26. 3. 2021. Besichtigu­ng jeden Freitag nach Voranmeldu­ng unter 01/24 503-21080

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