Die Schachtel zum Nikolo war das beste Geschenk
Es ist nicht das Protokoll ihres eigenen Lebens. Lida Winiewicz war Wienerin, aber in den 1980ern hatte sie ein Haus im Mühlviertel (St. Oswald) und hörte der Nachbarin zu.
Einer Frau, die sich „übrig“fühlte. Schon als Kind, weil sie arm war; und jetzt „übrig“, weil sie den Hof übergeben hat und im Ausgedinge ist. Bewundernswert gelassen erzählt sie angesichts der Ungerechtigkeiten im Leben.
Zwirnknöpfe
Bewundernswert ist ebenso, wie Winiewicz diese Stimme einfängt. Diese Art zu plaudern, übersetzt aus dem Dialekt, „Oral History“. Über eine Zeit in ländlicher Gegend, an dem die Fünfjährigen Zwirnknöpfe nähen mussten – für 960 bekam Mutter ein paar Groschen. Über ein Nikologeschenk: 2 Äpfel, 4 Stück Zucker, 1 Bleistift in einer Hirschseife-Schachtel, und die Schachtel war eine der größten Freuden im Leben.
Neuauflage des Buchs von 1986. Ungern legt man es zur Seite. Und bekommt die Todesmeldung: Lida Winiewicz (1928–2020).
Bernhard Schlink. Das macht er immer, und einerseits ist es egal bzw. sogar gut für den Verkauf, denn Bernhard Schlinks Bücher sind sofort in den Bestsellerlisten. Andererseits sind deshalb die Kritiken oft zurückhaltend.
Liebe riecht
Wobei alle d’accord sind, wie gekonnt der Deutsche seine Romane (seit „Der Vorleser“) und – im konkreten Fall – seine Erzählungen aufbaut. Er verrät am Anfang eine Kleinigkeit, über die man Genaueres wissen will, also muss man bis zum Schluss bleiben. Schlink konnte das in Krimis, und das kann er auch beim Auf-Wiedersehen-Sagen.
Aber nie, nie kann sich der studierte Jurist den Kitsch verkneifen. Er mag nicht darauf verzichten, dass ein „schwarzer See aus Traurigkeit“in irgendeiner Brust wohnt. Dass es nach Liebe riecht und von einer gewissen Anna das Licht nicht verlöscht.
Neun Mal Abschied, vom Bruder, Freund, von einer fernen Geliebten, auch von sich selbst. Schlink schreibt am nächsten Roman.