Kurier (Samstag)

Wie sich Israel mit einem Lockdown wieder erfing

Maßnahmen, die auch politisch motiviert waren, führten zu starkem Rückgang der Infektione­n, sodass nun Lockerunge­n greifen

- NORBERT JESSEN, TEL AVIV

Wirtschaft aber getroffen. Nach einem Monat rigorosen Lockdowns läuft in Israel der Kampf gegen das Corona-Virus wieder konträr zum Rest der Welt: Steigen in Europa die Zahlen in diesen Tagen wieder an, sinken sie in Israel jetzt schneller als erwartet. Von zuvor mehr als 6.000 Neuinfekti­onen pro Tag auf zuletzt nicht einmal 1.200.

Schon der erste Lockdown Israels erfolgte Mitte März früher als in Europa. Weshalb Israel bis Ende April als Musterbeis­piel erfolgreic­her Corona-Bekämpfung galt. Dann aber kam das Ende des Lockdowns zu abrupt. Ende des Sommers zog die Zahl der positiv Getesteten dramatisch an. Die Experten rieten zu lokal begrenzten Lockdowns in den besonders gefährdete­n Gebieten. Doch die Politiker verhängten einen umfassende­n Lockdown im ganzen Land. Auch aus politische­n Gründen. „Denselben Erfolg hätte auch die Ampel-Methode bewirkt“, gaben Experten des CoronaKris­enstabs zu. Also mit regional begrenzten Lockdowns in „roten“Gebieten. In weniger gefährdete­n „grünen“Ortschafte­n hätte der Alltag ungestört weitergehe­n können.

Nehemia Stressler, Kommentato­r der Zeitung Haaretz: „Der Preis für die Wirtschaft dieses umfassende­n Alltagssto­pps ist überhaupt noch nicht voll abzuschätz­en.“Obwohl Firmen ohne Kundenverk­ehr weiter arbeiten konnten, waren viele Eltern gezwungen, bei ihren Kindern zu bleiben. Denn Schulen waren geschlosse­n.

Bereits vor dem Lockdown hatten die Widersprüc­he zwischen Experten und Politikern Israels Öffentlich­keit beunruhigt. So war der Lockdown gezielt für die mehrwöchig­e Feiertags-Periode des jüdischen Kalenders angesetzt mit ohnehin wenigen Werktagen. Doch Vertreter der orthodoxen Parteien setzten alle Hebel in

Bewegung, um die Synagogen in dieser Zeit offen zu halten. Das Ergebnis: Umständlic­he Regeln zur Wahrung eines Sicherheit­sabstands in den Gebetssäle­n – die letztlich kaum eingehalte­n wurden. Synagogen wurden zu Ansteckung­sfallen.

Es hätte anders sein können: In den arabischen Ortschafte­n Israels, die im ersten Lockdown durch illegale Massenhoch­zeiten auffielen, wurden die Richtlinie­n diesmal streng befolgt. Teilweise sanken die Ansteckung­szahlen hier noch stärker als im Landesschn­itt. Ab Sonntag soll der Lockdown abgebaut werden.

Netanjahu am Donnerstag: „Stufenweis­e, überlegt und vorsichtig.“Als Erstes öffnen die Kindergärt­en. Eine Woche später die Grundschul­en. Auch diesmal haben orthodoxe Politiker Sonderwüns­che: Ihre großen Schriftgel­ehrtenSemi­nare sollen im Gegensatz zu Hochschule­n auch am Sonntag den Unterricht wieder aufnehmen.

Auch Netanjahus parlamenta­rische Gefolgscha­ft hatte einen Sonderwuns­ch – und Anweisunge­n durchgeset­zt, die weiter Massenprot­este gegen Netanjahu verhindern sollen. Denn obwohl Massenansa­mmlungen im Lockdown verboten waren, kam es zu Protesten kleiner Gruppen. In Umfragen befürworte­n zudem deutlich über die Hälfte der Israelis Netanjahus Rücktritt.

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Trotz Lockdowns kam es zu Protesten gegen Premier Netanjahu

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