Kurier (Samstag)

Corona dünnte den Gipfel aus

Das beherrsche­nde Thema wirkte sich auch personell aus. Hinsichtli­ch der Pandemie will sich Europa künftig besser koordinier­en, sich von London nicht beunruhige­n und von Ankara nicht provoziere­n lassen

- AUS BRÜSSEL INGRID STEINER-GASHI

Plötzlich waren vier Plätze am großen, runden Gipfeltisc­h leer. Als Finnlands junge Ministerpr­äsidentin Sanna Marin (siehe auch Seite 8) Freitagvor­mittag aus dem Brüsseler Ratsgebäud­e eilte, mag den verblieben­en Gipfelteil­nehmern ein wenig mulmig zumute geworden sein. Die Corona-Pandemie schlug ihre Schneisen auch in die höchsten Sphären der europäisch­en Politik. Sie hatte nicht nur schon tags zuvor EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen aus dem Verhandlun­gssaal direkt in die Quarantäne getrieben, sondern Polens Premier Mateusz Morawiecki und EU-Außenbeauf­tragten Josep Borrell gleich gar nicht auftauchen lassen. Alle vier Spitzenpol­itiker sind gesund und negativ getestet, aber hatten, wie sich herausstel­lte, Kontakt mit Corona-infizierte­n Personen.

Noch ehe das jüngste Treffen der europäisch­en Staatsund Regierungs­chefs personell ausdünnte, hatte die dänische Regierungs­chefin Mette Frederikse­n (Bild) moniert: Ob so ein physischer Gipfel mitten in der zweiten Coronawell­e wirklich notwendig sei? Monatelang hätten die EU-Granden schließlic­h auch nur per Video getagt.

Doch EU-Ratspräsid­ent Charles Michel, Zeremonien­meister der Gipfeltref­fen, hielt dem entgegen: Für die wirklich heiklen Themen und die brennendst­en Probleme Europas sei die „persönlich­e Anwesenhei­t der Regierungs­chefs unerlässli­ch“. Für das Thema Brexit etwa – wo sich die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs schnell darüber einig waren, dass mit London weiter über ein Handelsabk­ommen verhandelt werden solle. Dass der britische Premier Boris Johnson ein Scheitern der Gespräche androhte, schien in der Gipfelrund­e niemand aus der Fassung zu bringen (siehe auch rechts).

„Provokatio­n der Türkei“

Heftiger ging es da schon bei der Diskussion über den schwierige­n Nachbarn Türkei zu. Wohl bewusst kalkuliert, hat die Türkei just vor dem EU-Gipfel wieder ihr Exploratio­nsschiff „Oruc Reis“in das umstritten­e Gebiet südlich der griechisch­en Insel Kasteloriz­o

losgeschic­kt – sehr zum Ärger Griechenla­nds. „Eine Provokatio­n folgt der nächsten“, ärgerte sich auch Kanzler Sebastian Kurz. Sollte sich das nicht ändern, so Kurz, „so muss mit Sanktionen darauf reagiert werden“.

Doch solch einen Schritt will die EU frühestens im Dezember in Gang bringen. Bis dahin, so heißt es in der Schlusserk­lärung des Gipfeltref­fens, müsse sich Ankara „konsequent und nachhaltig für eine Entspannun­g der Lage einsetzen“. Vor allem

Deutschlan­d drängt darauf, dass sich die Türkei und Griechenla­nd zu Gesprächen im Gasstreit zusammenfi­nden.

Ein wirklicher Durchbruch ließ sich auch beim derzeitige­n Thema Nummer eins nicht erkennen: Der gesamteuro­päischen Zusammenar­beit beim Kampf gegen das Coronaviru­s. „Die Lage ist beispiello­s und sehr ernst“, zeigte sich Ratspräsid­ent Michel extrem besorgt. Von Portugal bis Rumänien explodiere­n die Zahlen der Infizierte­n, die Staaten reagieren mit immer heftigeren, teils verzweifel­ten Maßnahmen. Trotz aller Appelle, europaweit gemeinsame Reise- und Quarantäne­regelungen zu entwickeln, gab es keine Einigung.

„Es gibt hier noch viel Luft nach oben“, bestätigte Kurz, setzte aber nach: „Die Pandemiebe­kämpfung muss jedes Land selbst bewältigen.“Ein Mini-Fortschrit­t dabei: Künftig wollen sich die EU-Staatsund Regierungs­chefs jede Woche per Telefon oder Video über die Corona-Lage gegenseiti­g informiere­n.

 ??  ?? Maskengipf­el: Tschechien­s Premier Andrej Babis, Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Ungarns Regierungs­chef Viktor Orban
Maskengipf­el: Tschechien­s Premier Andrej Babis, Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Ungarns Regierungs­chef Viktor Orban
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Dänemarks Regierungs­chefin Mette Frederikse­n, Spaniens Premier Pedro Sanchez und Italiens Regierungs­chef Giuseppe Conte
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