Ein bisschen Demokratie
US-Wahl. Wahlmänner, Demokratie als Synonym für Chaos, Eliten, die bestimmen, wer Präsident wird – der Weg ins Weiße Haus ist kompliziert und nur durch einen Blick in die Geschichte zu verstehen
Der Dienstag sollte es also sein. Im 19. Jahrhundert tickten die Uhren anders, und der US-Kongress bestimmte 1845 den Tag der US-Präsidentschaftswahl für das gesamte Gebiet der damals 28 Staaten. Um den Bauern entgegenzukommen, wurde der November als Wahlmonat festgelegt, denn da war die Ernte eingebracht und das milde Klima begünstigte längere Reisen zu den Wahllokalen.
Die Suche nach dem geeigneten Wahltag war weniger einfach: Der Sonntag fiel weg – der war dem Kirchenbesuch vorbehalten. Auch der Montag wurde wegen der teilweise großen Entfernungen ausgeschlossen, um eine Anreise zum Wahllokal zu ermöglichen. Samstag war vielerorts Markttag, der am Freitag vorbereitet wurde. Auch Donnerstag kam nicht infrage, weil an diesem Tag die verhassten Briten wählten. Somit blieben nur Dienstag und Mittwoch. Man entschied sich für den Dienstag.
Das ist bis heute so: Auch 2020 stimmen die US-Bürger am Dienstag, dem 3. November, zum 59.MalübereinenPräsidentenab.
WiedenWahltagkannmandie US-Wahl nur verstehen, wenn man durch die historische Brille darauf schaut. „Das heutige System der parlamentarischen Demokratie war zum Zeitpunkt der amerikanischen Unabhängigkeit vollkommen unbekannt. Man muss also alle Erwartungen an das System abschütteln“, sagt der USHistoriker Mitchell G. Ash. Die Gründerväter der USA bastelten an einem Gegenpol zur Monarchie, wollten aber auch die Demokratie in Ketten legen, analysiert Ash. „Das Wort Demokratie war damals ein Schimpfwort. Mobokratie hat man es spöttisch genannt.“ Die Regierung des Pöbels. Daher sollte eine Gruppe von vertrauenswürdigen und weisen Bürgern die eigentliche Entscheidung treffen.
Pöbel mit Mistgabeln
Die Sitzungen dazu fanden (und finden)imjeweiligenBundesstaat statt und nicht auf einer zentralenVersammlung,damitderPöbel nicht mit Mistgabeln vor der Tür auftauchen und Druck ausüben konnte. Wie formulierte George Mason, einer der Verfassungsväter, so schön: man wolle nicht „Blinden die Auswahl von Farben übertragen“. Heute analysiert Ash: „Als Gegengift gegen die Gefahr von blinden Mehrheiten wurde eine repräsentative Demokratie eingeführt. Die Wahl des US-Präsidenten war und ist bis heute eine indirekte.“Das weltweit einmalige Electoral College war geboren.
Wer jetzt meint, verbale Attacken, gegenseitige Unterstellungen und Fake News, mit denen heute um das Präsidentenamt gekämpft wird, seien eine neue Erscheinung, irrt. Harte Bandagen werden seit den frühesten Wahlkämpfen eingesetzt – bis hin zum tödlichen Duell zwischen politischen Rivalen oder zur Einlieferung eines republikanischen Spitzenkandidaten ins Irrenhaus direkt nach der Wahl. Zu den Absonderlichkeiten des Systems zählt ein Parteikonvent, der 17 Tage und 103 Wahlgänge bis zur Entscheidung für einen Kandidaten benötigte.
Bis heute könne man in den USA also nicht von einem einheitlichen Wahlrecht sprechen, sagt Ash: „Denn die Durchführung vonWahlenwirdinderVerfassung ausdrücklich den Bundesstaaten überantwortet.“So gebe es beispielsweise keine einheitliche Regelung,
wonach die Wahlmänner sich an den Wählerwillen halten müssen. „Sieben Bundesstaaten kennen diesen Zwang nicht – und das ist durchaus legal. Es kam bei fast jeder Wahl mindestens einmal vor, dass Wahlmenschen anders entschieden. Meist mit unerheblichen Folgen. Diesmal könnte es anders sein“, sagt der Kenner des US-Wahlsystems.
Wobei: Auch das wäre keine Premiere. 1876 erhielt der demokratische Kandidat Samuel J. Tilden an den Urnen 250.000 Stimmen mehr als sein republikanischer Gegner Rutherford B. Hayes. Dennoch wurde Hayes Präsident. Für ihn stimmten 185 Wahlmänner, für Tilden 184. Und auch 1888 triumphierten die Wahlmänner über die Wähler.
Diese Missachtung des Wählerwillens war durchaus im Sinne der Verfassungsväter. Das Volk sollte ein Mitspracherecht bekommen, aber nur ein bisschen, der Präsident aber sollte von einer Elite erkoren werden. Historiker Ash resümiert: „Demokratie im Sinne von direkter Demokratie kam den Leuten damals überhaupt nicht in den Sinn.“