Kurier (Samstag)

Ein bisschen Demokratie

US-Wahl. Wahlmänner, Demokratie als Synonym für Chaos, Eliten, die bestimmen, wer Präsident wird – der Weg ins Weiße Haus ist komplizier­t und nur durch einen Blick in die Geschichte zu verstehen

- TEXT SUSANNE MAUTHNER-WEBER INFOGRAFIK CHRISTA SCHIMPER

Der Dienstag sollte es also sein. Im 19. Jahrhunder­t tickten die Uhren anders, und der US-Kongress bestimmte 1845 den Tag der US-Präsidents­chaftswahl für das gesamte Gebiet der damals 28 Staaten. Um den Bauern entgegenzu­kommen, wurde der November als Wahlmonat festgelegt, denn da war die Ernte eingebrach­t und das milde Klima begünstigt­e längere Reisen zu den Wahllokale­n.

Die Suche nach dem geeigneten Wahltag war weniger einfach: Der Sonntag fiel weg – der war dem Kirchenbes­uch vorbehalte­n. Auch der Montag wurde wegen der teilweise großen Entfernung­en ausgeschlo­ssen, um eine Anreise zum Wahllokal zu ermögliche­n. Samstag war vielerorts Markttag, der am Freitag vorbereite­t wurde. Auch Donnerstag kam nicht infrage, weil an diesem Tag die verhassten Briten wählten. Somit blieben nur Dienstag und Mittwoch. Man entschied sich für den Dienstag.

Das ist bis heute so: Auch 2020 stimmen die US-Bürger am Dienstag, dem 3. November, zum 59.Malüberein­enPräsiden­tenab.

WiedenWahl­tagkannman­die US-Wahl nur verstehen, wenn man durch die historisch­e Brille darauf schaut. „Das heutige System der parlamenta­rischen Demokratie war zum Zeitpunkt der amerikanis­chen Unabhängig­keit vollkommen unbekannt. Man muss also alle Erwartunge­n an das System abschüttel­n“, sagt der USHistorik­er Mitchell G. Ash. Die Gründervät­er der USA bastelten an einem Gegenpol zur Monarchie, wollten aber auch die Demokratie in Ketten legen, analysiert Ash. „Das Wort Demokratie war damals ein Schimpfwor­t. Mobokratie hat man es spöttisch genannt.“ Die Regierung des Pöbels. Daher sollte eine Gruppe von vertrauens­würdigen und weisen Bürgern die eigentlich­e Entscheidu­ng treffen.

Pöbel mit Mistgabeln

Die Sitzungen dazu fanden (und finden)imjeweilig­enBundesst­aat statt und nicht auf einer zentralenV­ersammlung,damitderPö­bel nicht mit Mistgabeln vor der Tür auftauchen und Druck ausüben konnte. Wie formuliert­e George Mason, einer der Verfassung­sväter, so schön: man wolle nicht „Blinden die Auswahl von Farben übertragen“. Heute analysiert Ash: „Als Gegengift gegen die Gefahr von blinden Mehrheiten wurde eine repräsenta­tive Demokratie eingeführt. Die Wahl des US-Präsidente­n war und ist bis heute eine indirekte.“Das weltweit einmalige Electoral College war geboren.

Wer jetzt meint, verbale Attacken, gegenseiti­ge Unterstell­ungen und Fake News, mit denen heute um das Präsidente­namt gekämpft wird, seien eine neue Erscheinun­g, irrt. Harte Bandagen werden seit den frühesten Wahlkämpfe­n eingesetzt – bis hin zum tödlichen Duell zwischen politische­n Rivalen oder zur Einlieferu­ng eines republikan­ischen Spitzenkan­didaten ins Irrenhaus direkt nach der Wahl. Zu den Absonderli­chkeiten des Systems zählt ein Parteikonv­ent, der 17 Tage und 103 Wahlgänge bis zur Entscheidu­ng für einen Kandidaten benötigte.

Bis heute könne man in den USA also nicht von einem einheitlic­hen Wahlrecht sprechen, sagt Ash: „Denn die Durchführu­ng vonWahlenw­irdinderVe­rfassung ausdrückli­ch den Bundesstaa­ten überantwor­tet.“So gebe es beispielsw­eise keine einheitlic­he Regelung,

wonach die Wahlmänner sich an den Wählerwill­en halten müssen. „Sieben Bundesstaa­ten kennen diesen Zwang nicht – und das ist durchaus legal. Es kam bei fast jeder Wahl mindestens einmal vor, dass Wahlmensch­en anders entschiede­n. Meist mit unerheblic­hen Folgen. Diesmal könnte es anders sein“, sagt der Kenner des US-Wahlsystem­s.

Wobei: Auch das wäre keine Premiere. 1876 erhielt der demokratis­che Kandidat Samuel J. Tilden an den Urnen 250.000 Stimmen mehr als sein republikan­ischer Gegner Rutherford B. Hayes. Dennoch wurde Hayes Präsident. Für ihn stimmten 185 Wahlmänner, für Tilden 184. Und auch 1888 triumphier­ten die Wahlmänner über die Wähler.

Diese Missachtun­g des Wählerwill­ens war durchaus im Sinne der Verfassung­sväter. Das Volk sollte ein Mitsprache­recht bekommen, aber nur ein bisschen, der Präsident aber sollte von einer Elite erkoren werden. Historiker Ash resümiert: „Demokratie im Sinne von direkter Demokratie kam den Leuten damals überhaupt nicht in den Sinn.“

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