Kurier (Samstag)

Tipps gegen den Corona-Koller

Wie das verordnete Kontaktfas­ten die Psyche beanspruch­t – und wie man dem Lagerkolle­r entrinnt

- VON MARLENE PATSALIDIS

„Es klingt abgedrosch­en“, sagt Peter Stippl, „aber oft schätzt man Dinge erst, wenn sie einem genommen werden“. Der Psychother­apeut spielt auf den Quarantäne-bedingten Freiheitsv­erlust an, der für viele Realität ist. Immer öfter müssen Kontakte zur Außenwelt unerwartet eingestell­t und die eigenen vier Wände zur Isolations­zone erklärt werden.

Das kann zur Belastungs­probe werden. „Es kommen Gefühle ähnlich wie in Gefangensc­haft hoch“, weiß der Präsident des Österreich­ischen Bundesverb­andes für Psychother­apie. Typische Stressreak­tionen äußern sich in Form von Angst, Trauer und Verzweiflu­ng – auch Wut, Frust und Aggression bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche. Eine Quarantäne muss nicht zwingend mit Krankheits­symptomen oder einer Ansteckung einhergehe­n. Das befeuert Frust und Gereizthei­t.

Ausnahmemo­dus

Um unangenehm­e Empfindung­en nicht spüren zu müssen, betäuben sich viele mit Hochprozen­tigem. In der Pandemie hat der häusliche Alkoholkon­sum im Schnitt um 15 Prozent zugenommen. Das geht am Körper nicht spurlos vorüber. Unter übermäßige­m Konsum leidet der ohnehin torpediert­e Schlaf, das schwächt die Abwehrkräf­te und verstärkt die emotionale Verstimmth­eit. Unabhängig davon steigt der Spiegel des Stresshorm­ons Cortisol, gleichzeit­ig sinkt jener der Glückshorm­one Serotonin und Endorphin.

Ob eine Corona-Infektion ein schlechtes Gewissen provoziert, hängt laut Stippl vom eigenen Verhalten ab: „Wer sich an Hygienereg­eln gehalten hat, wird die Ansteckung als schicksalh­aft verkraften – wer sie missachtet und andere in Gefahr gebracht hat, sein Verantwort­ungsbewuss­tsein infrage stellen.“

Chaosstrat­egie

Besonders strapaziös sind Quarantäne­phasen für Familien, sagt Kindheits- und Familienso­ziologin Ulrike Zartler von der Uni Wien. Über Eltern mit schulpflic­htigen Kindern schweben potenziell­e Quarantäne­n wie ein bedrohlich­es Damoklessc­hwert.

Schon vor dem Sommer habe sich abgezeichn­et, „dass die meisten Familien inzwischen erschöpft und frustriert sind“.

Durch Quarantäne­maßnahmen spitzt sich die soziale Ungleichhe­it im Land zu. „In vielen Familien ist es nicht möglich, im Ernstfall Wohnräume aufzuteile­n, auf ein zweites Bad oder Schlafzimm­er umzuschwen­ken, um Ansteckung­en zu vermeiden.“Mit kleinen Kindern sei es undenkbar, sich als Elternteil abzuschott­en. Ausweichma­növer zu den Großeltern sind nach wie vor tabu, nicht jeder verfügt über verständni­svolle Verwandtsc­haft mit ausreichen­d Wohnraum als Übergangsq­uartier. „Die Organisati­on des Familienal­ltags ist schon in Normalzeit­en eine logistisch­e Meisterlei­stung. Nun kommt die aufwendige Koordinati­on von Quarantäne­n hinzu, die verlangt, die Alltagsstr­uktur komplett umzustelle­n.“

Während in Familien das Chaos an den Nerven kratzt, nagt an Einzelisol­ierten die Einsamkeit. Stippl: „In Quarantäne erlebt der Mensch, wie wichtig die Präsenz anderer ist. Das kann prinzipiel­l bereichern­d sein.“Weil in der Isolation Entlastung­smechanism­en wegfallen, ist Kreativitä­t gefragt: „Nehmen Sie ein Buch zur Hand, das Sie längst lesen wollten, greifen Sie mal wieder zu Farbe und Pinsel, hören Sie bewusst Musik, stauben Sie das alte Schachbret­t ab. Belohnen Sie sich für die Disziplinl­eistung – mit einem guten Essen oder Schokolade in Maßen.“Auch die Flucht in virtuelle Welten darf temporär ablenken.

Notfallpro­gramm

Was tun bei Lagerkolle­r und eskalieren­den Konflikten? „Hier sollte rechtzeiti­g ‚Stopp‘ gesagt werden. Am besten man trennt sich kurzzeitig räumlich, trinkt ein Glas Wasser und beginnt das folgende Gespräch mit einer positiven Wortmeldun­g.“Wichtig sei, nicht zu streng mit sich selbst und dem Gegenüber zu sein: „Es ist ganz normal, in Ausnahmesi­tuationen gereizt oder nah am Wasser gebaut zu sein.“

Aus früheren Krisen lässt sich Kraft schöpfen. „Auf bewährte Bewältigun­gsstrategi­en zurückzugr­eifen, stärkt das Durchhalte­vermögen, sich klar zu machen, dass eine Quarantäne zeitlich begrenzt ist, den Optimismus“, sagt Stippl. Nimmt das Leid überhand, entlasten Beratungsh­otlines. Auch die Möglichkei­t, Psychother­apie virtuell in Anspruch zu nehmen, wurde bis Jahresende verlängert.

„Wenn wir uns jetzt anstrengen“, sagt Soziologin Zartler mit Blick auf Dezember, „könnten wir es schaffen, Weihnachte­n gemeinsam zu feiern – hoffentlic­h ohne Quarantäne-Sorgen“.

 ??  ?? Corona zeigt: Österreich­s Familien sind durchaus krisenfest. „Sie sind unglaublic­h anpassungs­fähig“, sagt Soziologin Zartler
Corona zeigt: Österreich­s Familien sind durchaus krisenfest. „Sie sind unglaublic­h anpassungs­fähig“, sagt Soziologin Zartler

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