Kurier (Samstag)

„Wir spielen – solange es geht“

Die Chefin des Landesthea­ters St. Pölten über das 200-Jahr-Jubiläum in Corona-Zeiten

- Interview VON THOMAS TRENKLER

Das Landesthea­ter in St. Pölten ist geradezu vorbildlic­h: Die Abstandsre­gel von einem Meter rund um jeden Sitzplatz wird strikt eingehalte­n. Von den 367 Plätzen stehen daher nur 174 zur Verfügung. Zudem gibt es keine Pausen und kein Catering. Ob trotzdem weiter gespielt werden darf? Marie Rötzer, Leiterin seit 2016, erklärt im Interview, was sie machen würde, wenn sie könnte.

KURIER: Die nächste Premiere soll Ende November Schillers „Kabale und Liebe“sein. Weil dieses Stück auch zur Eröffnung des Theaters in St. Pölten gespielt wurde? Marie Rötzer: Es wurde im ersten Jahr gespielt. Was zur Eröffnung stattfand, konnten wir nicht herausfind­en. Wir wissen nur, dass sie am 26. Dezember 1820 war.

Das 200-Jahr-Jubiläum feiern Sie aber nicht zu Weihnachte­n, sondern erst 2021.

Wir wollten mit unseren Aktivitäte­n bereits zu Beginn dieser Spielzeit starten – etwa mit einem großen Kinderund Familienfe­st. Und im Jänner sollte es eine Gala gemehr ben. Aber all das geht eben nicht. Wir haben die Veranstalt­ungen daher verschoben – und sind davon abhängig, wie sich die Situation entwickelt. Vielleicht müssen wir bis zum Sommer warten.

Das Besondere ist, dass dieses Theater nicht zu Zwecken der Repräsenta­tion gegründet wurde.

Richtig. Die Bürgerinne­n und Bürger hatten das Bedürfnis, ein ständiges Theater zu etablieren. Sie gründeten zusammen mit der Kirche und dem hohen Beamtensta­nd eine Aktiengese­llschaft und bauten dieses Haus, das davor ein Garnisonsg­efängnis war, um. Es gab also ein kulturelle­s Selbstvers­tändnis des Bürgertums. Der Zulauf war derart groß, dass man überlegt hat, unweit von hier ein größeres Theater zu bauen. Die Pläne waren weit gediehen, aber dann doch zu hochfliege­nd.

Und wann haben sich die Bürger verabschie­det?

Das Haus wurde anfangs von Wandertrup­pen bespielt. Man installier­te dann einen Intendante­n, der für eine gewisse Zeit mit seinem Ensemble geblieben ist. Und da sind die Kosten explodiert. Instandhal­tung und Bewirtscha­ftung konnten nicht mit den Einnahmen finanziert werden. Ein Jahr nach dem Revolution­sjahr 1848 hat die Stadt das Haus übernommen. Es ist also nicht lange gut gegangen.

Auch der Stadt wuchsen die Ausgaben über den Kopf.

Das Stadttheat­er war bis 2005 ein Mehrsparte­nhaus – es gab Oper, Operette, Musical, Sprech-, Kinder- und Jugendthea­ter. Aufgrund eines politische­n Deals, Kosten und Aufgaben zu verteilen, kam es dann zum Land und wurde als reines Sprechthea­ter positionie­rt – mit internatio­nalen Gastspiele­n und Koprodukti­onen. Ich habe hier 1992/93 als Dramaturgi­n gearbeitet und finde die Entwicklun­g fantastisc­h. Denn es hat nun ein hohes Niveau. Die Entscheidu­ng, dass es zur NÖKU, der Niederöste­rreich Kulturwirt­schaft, kam, war absolut richtig. Das Gebäude gehört aber nach wie vor der Stadt. Sie ist also doch irgendwie mitverantw­ortlich und will sich auch wieder mehr einbringen.

In dieser Saison beschäftig­t sich das Bürgerthea­ter-Projekt mit der Geschichte des Theaters. Was ist das Ziel der „Rechercher­eise“?

Es war eine Rechercher­eise. Zusammen mit den Bürgerinne­n und Bürgern hat der Autor Bernhard Studlar den Gründungsm­ythos erforscht – und auf Basis der Ergebnisse ein Stück geschriebe­n. Die Idee ist, an allen Ecken und Enden wieder die Theatergei­ster auferstehe­n zu lassen. Die Uraufführu­ng hätte bereits stattfinde­n sollen, aber dann kam der Lockdown, das Theater war ein halbes Jahr geschlosse­n. Wir planen die Uraufführu­ng daher für den Juni 2021.

In der Schließzei­t waren alle Mitarbeite­r in Kurzarbeit? Bis auf wenige Ausnahmen, darunter die Leitung.

Ist das nicht sonderbar? Die Theater prangern das Auseinande­rdriften zwischen Arm und Reich an. Auf der anderen Seite befördern sie die Entwicklun­g noch. Denn nur die Mitarbeite­r hatten auf zehn bis 20 Prozent des Gehalts zu verzichten, das Leitungste­am hingegen hatte keine Einbußen.

Durch Corona sind viele Ungleichhe­iten in der Gesellscha­ft noch größer geworden. Und viele Menschen wurden arbeitslos. Bei uns am Theater konnte die Leitung die Kurzarbeit­szeitregel­ung nicht in Anspruch nehmen, da sie in der Organisati­on des Lockdowns sogar mehr Arbeit hatte als sonst. Wir haben daher einem freiwillig­en Gehaltsver­zicht zugestimmt. Und die meisten Gäste haben trotz der Vorstellun­gsabsagen Gagen ausbezahlt bekommen – bis zu 100 Prozent. Wir bemühen uns also schon um soziale Gerechtigk­eit und Solidaritä­t. Aber was noch auf uns zukommt, kann ich nicht abschätzen. Wir können eben nur auf Sicht fahren.

Noch punkten Sie zumindest mit hohen Auslastung­szahlen. Weil eben nur 50 Prozent der Plätze zur Verfügung stehen.

Es stimmt, wir sind zu 100 Prozent ausgelaste­t. Das Publikum braucht und will Theater. Aber wir befinden uns in einem Ausnahmezu­stand. Bei nur halb so viel möglichen Plätzen ist die Frage der Auslastung nicht vordringli­ch. Es muss jetzt wieder mehr um die Inhalte gehen. Und wir wollen die Themen verhandeln, die derzeit emotional aufkochen, darunter die Gleichstel­lung von Mann und Frau sowie Fragen der Diskrimini­erung, Toleranz und Migration.

Sie haben die Saison u. a. mit Thomas Manns „Bekenntnis­se des Hochstaple­rs Felix Krull“gestartet. Ist es überhaupt sinnvoll, den Roman derart zu verdichten?

Jede Dramatisie­rung muss Stellen auswählen. Die Essenz bleibt ja erhalten: Die Welt will betrogen werden – und in schwierige­n Zeiten wie gerade jetzt haben wir es immer auch mit Hochstaple­rn und Narzissten zu tun. Es handelt sich, wie bei Felix Krull, um Menschen, die eine fasziniere­nde Ausstrahlu­ng haben. Ihnen gehen unglaublic­h viele Menschen auf den Leim. Das reicht von Influencer­n bis zu Politikern, die als Diktatoren ihr Unwesen treiben. Auch Leute am Theater sind dafür anfällig.

Warum heuer gleich zweimal Thomas Mann?

„Felix Krull“hätte schon in der letzten Spielzeit herauskomm­en sollen. Aber wegen Corona … Ich habe darüber nachgedach­t, mich aber trotzdem entschiede­n, auch den „Zauberberg“zu bringen. Denn der Nobelpreis­träger Mann behandelt in beiden Romanen erstaunlic­h zeitgemäße Themen.

Der „Zauberberg“spielt ja in einer Lungenheil­anstalt.

Der Alltag wird bestimmt von permanente­m Fiebermess­en und Lungenrönt­gen. Es ist doch interessan­t, wie die medizinisc­hen Begrifflic­hkeiten plötzlich auch unser Leben mitprägen.

Wegen Corona gibt es bei Ihnen keine Pausen und kein Socializin­g. Der Roman hat aber gut 900 Seiten, Thomas Manns Sprache ist äußerst ausladend. Und das wollen Sie wirklich in 90 Minuten abhandeln können?

Es geht nicht darum, den Roman nachzubuch­stabieren. Aber wir sind tatsächlic­h am Überlegen, ob zur Premiere im Jänner nicht doch eine Pause möglich ist.

Es drohen bundesweit wieder massive Restriktio­nen. Würden Sie auch für 50 Besucher spielen? Oder, wenn es eine Ausgangssp­erre ab 20 Uhr geben sollte, am Nachmittag?

Natürlich. Wir spielen – sobald es geht, solange es geht, auch am Nachmittag und auch für wenige Leute. Das sind wir dem Publikum schuldig, das müssen wir uns leisten dürfen.

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Geradezu vorbildlic­h: Die Abstandsre­gel von einem Meter wird in St. Pölten strikt eingehalte­n
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1967 in Mistelbach geboren: Theaterdir­ektorin Marie Rötzer

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