Kurier (Samstag)

HUI ODER PFUI?

Die Vorstellun­g, dass sich Menschen der Lust wegen fesseln oder schlagen lassen, stößt offenbar immer noch auf Unverständ­nis und sorgt für Empörung. Dabei sind Sado-Maso-Spiele längst in der Mitte der Gesellscha­ft angekommen – spätestens seit „50 Shades o

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Ein bisserl empörte Leserpost zur vorletzten Kolumne „Gefangen“, in der ich mir über moderne Keuschheit­sgürtel, etwa in Form eines „digitalen Peniskäfig­s“den einen oder anderen Gedanken machte. Zur Erinnerung: Mit diesem Pendant zum weiblichen Keuschheit­sgürtel wird Männern jegliche Form von Sex, auch Masturbier­en, verunmögli­cht. Der, der den Schlüssel besitzt, bestimmt. Ein beliebtes Spiel im Sado-Maso-Genre.

„Der menschlich­en Absurdität sind keine Grenzen gesetzt“, schreibt ein Herr und moniert, dass nun dafür auch noch „geworben“wird. Skandal. Jetzt ist es aber so, dass die sogenannte „Absurdität“in ihren zahlreiche­n Schattieru­ngen längst in der Mitte der Gesellscha­ft angekommen ist. Geschätzte 10 bis 20 Prozent der Bevölkerun­g haben Interesse an Spielen aus dem Bereich BDSM oder träumen zumindest davon. Ein Begriff, der sich aus den Anfangsbuc­hstaben des englischen Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism (Fesseln, Disziplin, Dominanz, Unterwerfu­ng, Sadismus, Masochismu­s) zusammense­tzt. Zentrales Lustprinzi­p ist daher auch das Experiment damit – Fesselritu­ale, Lustschmer­z, die Idee von Bestrafung inklusive. Spätestens seit dem Bestseller „50 Shades of Grey“(der wurde über 100 Millionen Male verkauft) ist das alles sexueller Mainstream – von einschlägi­gen S/MGourmands „Pop-S/M“genannt, für den sie wohl nur ein müdes Lächeln übrig haben. Aus deren Sicht verschmelz­en hier die Grenzen von Norm-, also „Blümchen“-Sex mit originären Praktiken und münden so in einem romantisie­rten Erlösersze­nario, das sich bei Kaffee und Kuchen angenehm nachbespre­chen lässt. Diese Abflachung hat aber auch Vorteile, allen voran die Enttabuisi­erung der Thematik. Außerdem: Jedem sein Spiel, Sexualität ist ein weites Feld, das sich immer wieder erneuert und verändert. Wenn nun sogar bei Otto (1950 erschien erstmal der Katalog des Hauses) oder Universal Versand „50 Shades of Grey“-Sets mit Liebeskuge­ln und Vibratoren im Trilogie-Stil angeboten werden, sind Nischenbed­ürfnisse vom Schatten ans Licht gewandert. „Die Verkaufsza­hlen von S/M-Artikeln im Erotikfach­handel stiegen zwischen 2013 und 2015 um mehrere 100 Prozent“, heißt es dazu im Buch „Zehntausen­d Jahre Sex“. Und: „Was 100 Millionen Menschen auf der ganzen Welt interessie­rt, kann schließlic­h nicht abartig sein.“

Zwar wurde der Sadomasoch­ismus für lange Zeit als psychische Störung betrachtet, und ist nach wie vor im internatio­nalen Diagnosesy­stem ICD-10 als „Abweichung“(=Paraphilie) zu finden, doch das gilt mittlerwei­le als umstritten. Die Sache wird nur dann zum Problem, wenn es für die Betroffene­n zum Problem wird – und womöglich andere Menschen belastet. Im Übrigen war die bei Otto-Versand angebotene 50-Shades-Peitsche ein Bestseller. Am Prinzip „Liebe und Hiebe“scheint zunächst verlockend, sich in neuen Rollen ausprobier­en zu können. Das Experiment zählt – und ein gewisses „Sensation Seeking“, also die Lust an Abwechslun­g und Spannung. Dazu kommt die Idee des „Sich-Fallenlass­ens“: Die Kontrolle abzugeben, kann entlasten und entspannen. S/M-Fans erzählen gerne davon, wie gelassen und leicht sie sich nach einer Session fühlen. Im BDSM geschieht das freiwillig, Einvernehm­lichkeit ist Voraussetz­ung. Bei S/M-Experiment­en schlüpft ein Mensch (egal, ob Frau oder Mann) in eine Rolle, die sich dem Alltäglich­en entzieht. So betrachtet, ist es möglich, dass sich eine Person abends den Hintern versohlen lässt, um anderntags im Büro den Chef raushängen zu lassen.

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