Biden braucht Kraft
„And the winner is ...“– Keine OscarVerleihung kann annähernd so nervenaufreibend sein, wie diese USPräsidentschaftswahl. Auch, aber nicht nur wegen des bescheuerten, sorry: des nicht nachvollziehbaren amerikanischen Wahlsystems. Und je mehr sich gegen Ende des Auszählungsmarathons herauskristallisierte, dass der Sieger Joe Biden heißen wird, desto eindrücklicher wurde auch: die Enttäuschung von Filmstars, die den Oscar nicht bekommen, ist nichts gegen das, was der Verlierer einer amerikanischen Wahl durchleidet.
Der Auftritt Donald Trumps Donnerstagabend im Weißen Haus war an Gespensterhaftigkeit nicht zu überbieten. Wie er von seinem Wahlsieg faselte, würde man nur „die legalen Stimmen“zählen, musste einem der Mann fast leidtun. Er las vom Zettel ab, er wirkte wie unter Beruhigungsmittel gesetzt – und erinnerte fatal an Hillary Clinton nach ihrer Wahlniederlage vor vier Jahren. So ferngesteuert und neben sich wie die Demokratin nach ihrem sicher geglaubten Sieg, so aus dem Ruder läuft der von der eigenen Niederlage erschlagene Donald Trump.
Nur dass der Mann kraft seines Noch-Amtes und seiner engsten Anhänger brandgefährlich ist (wie recht behalten all’ die, die ihn immer schon dringend einer Psychotherapie anempfohlen hätten). Sein Sohn Donald jr. spricht schon vom „totalen Krieg“(wer war das noch mal mit „Wollt Ihr den totalen Krieg“?) und ermuntert seinen Vater, wie in einem schlechten Film, um diese Wahl zu kämpfen bis zum Tod – Amerika im Jahr 2020!
Der Mann, der jetzt übernehmen wird, findet ein Amerika vor, das so gespalten ist wie nie zuvor. Nein, Trump hat die Spaltung nicht erfunden, er hat sie nur mit aller Absicht und ausschließlich mit Blick auf seinen (vermeintlichen) Erfolg vertieft. Die Bruchlinien verlaufen zwischen Stadt und Land, zwischen Weißen und Schwarzen, zwischen Aufsteigern und Verlierern der Modernisierungsgesellschaft. Es knirscht zwischen höher Gebildeten und einfachen Arbeitern, zwischen blauen und roten Staaten, zwischen Jung und Alt – auch innerhalb der Lager, gerade innerhalb der Demokraten.
Joe Biden hat dank eines am Ende wohl eindrucksvollen Wahlsieges ein starkes Mandat, da kann der Outgoing President rumpelstilzen, so viel er will. Dem 77-Jährigen wird als herausragende Eigenschaft nebst Erfahrung Empathie und die Fähigkeit, Brücken zu schlagen, nachgesagt. Nichts wäre wichtiger als das. Und vielleicht ist es ja gut, dass ein Politikertyp von gestern im Heute des unversöhnlichen Schwarz-Weiß, der immer verbisseneren Meinungs-Egomanie, der Verwüstung des Respekts die Regie im großen Kino Amerika übernimmt.
Es geht nicht um den Oscar, es geht um viel mehr. Man kann Joe Biden nur die Kraft wünschen, die er dafür braucht. Zweifel und Wünschen schließen einander ja nicht aus.
Ein Politikertyp der Vergangenheit im unversöhnlichen Heute der USA – kann das gut gehen? Hoffen darf man ja