Kurier (Samstag)

„Joe is a real Mensch“

Der vermutlich 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten verfügt vor allem über Empathie – auch weil sein bisheriges Leben voller Prüfsteine war, die für zehn Leben reichen würden

- VON DIRK HAUTKAPP Porträt

Marshallto­wn im Bundesstaa­t Iowa. Der Abend des 26. Jänner. In Kalifornie­n stürzt Basketball-Gigant Kobe Bryant mit Tochter Gianna im Hubschraub­er ab. Amerika fällt in ein tiefes Loch. Reporter, auch der Autor dieser Zeilen, ignorieren in der schmucklos­en Halle auf dem Kirmesplat­z der Kleinstadt vorübergeh­end den Mann des Abends und jagen durch ihre Twitter-Feeds.

Joe Bidens Reden in der Frühphase der demokratis­chen Vorwahlen zur Präsidents­chaftskand­idatur, sorry, sie hatten manchmal die Wirkung des Nerventoni­kums Galama. Er war nicht in Form. Nicht vor Kamera und Mikrofon. Als der Medienpulk genervt zum Ausgang strebt, nimmt Biden ein kleines Bad in der Menge, schüttelt Hände, flüstert Müttern und Kindern etwas ins Ohr, zeigt lächelnd die geweißten Zähne und legt zum Leidwesen der nervösen Secret ServiceAge­nten Wildfremde­n die Hand auf die Schulter.

„Es wird besser“

Plötzlich schiebt sich ein Pensionist an den Politiker heran und sagt mit zittriger Stimme: „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Meine Frau hat Krebs.“Bidens Augen verengen sich. Nachdem er den Kloß im Hals herunterge­schluckt hat, fixiert der 77Jährige sein Gegenüber und sagt vor aller Ohren: „Mann, ich weiß, wie sich das anfühlt. Es ist schrecklic­h. Aber irgendwann wird es besser, glauben Sie mir.“

Was sich wie ein hohler Kalendersp­ruch ausnimmt, wirkt Wunder. Der alte Mann hat Tränen in den Augen. Er bedankt sich ausgiebig. Biden sieht ihm einige Sekunden nach. Die kleine Szene charakteri­siert wie unter dem Brennglas, warum in Amerika viele in Anlehnung an das

Jiddische sagen: „Joe is a real Mensch.“Ein feiner, ein guter, ein anständige­r Mensch, der seiner Umwelt mit einer doppelten Portion Empathie begegnet. Und der, wie wenige in seiner Liga, in der Disziplin Leid-teilen-Trost-spenden behaupten kann: „Ich weiß, wovon ich spreche.“

Denn Joseph Robinette Biden Jr., der, wenn nichts mehr passiert, Amerikas 46. Präsident zu werden scheint, hat vom Schicksal Prüfsteine in den Lebensweg geknallt bekommen, dass es für zehn reichen würde. Biden, geboren am 20. November 1942 in Scranton/Pennsylvan­ia, französisc­h-irischer Abstammung, Sohn eines Autohändle­rs, fing mit vier Jahren an zu stottern. Noch heute vergaloppi­ert er manchmal Rede-Passagen. 1988 wurde er wegen eines Aneurysmas am Hirn operiert.

Familientr­agödie

1972, nur wenige Wochen nach seinem Einzug in den Senat von Washington, starben seine erste Frau Neilia und die 13 Monate alte Tochter Naomi unmittelba­r vor Weihnachte­n bei einem Autounfall. Beau, 3, und Hunter, 2, die beiden Söhne, überlebten schwer verletzt.

Jahrelang fuhr Biden („Mr. Amtrak“) unter der Woche morgens und abends die 150 Kilometer zwischen seinem Heimatort Wilmington im Bundesstaa­t Delaware und Washington im Zug hin und her, um seine Buben ins Bett zu bringen. Seine zweite Frau, die First Lady-in spe Jill Biden, eine Lehrerin, heiratete er fünf Jahre nach der Tragödie. 1981 kam Tochter Ashley zur Welt.

2015 musste Biden seinen ältesten (Lieblings)Sohn Beau, der Justizmini­ster in Delaware war und US-Kriegseins­ätze absolviert hatte, nach einem Hirnturmor zu Grabe tragen. Auf dem Totenbett nahm ihm der charismati­sche Jung-Politiker ein Verspreche­n ab: „Dad, du musst mir verspreche­n, dass es dir gut gehen wird.“

Zwischen all diesen Kapiteln brachte Joe Biden 47 Jahre im Senat, drei Präsidents­chaftskand­idaturen und acht Jahre Vizepräsid­entschaft unter Barack Obama hinter sich – ohne je den Lebensmut zu verlieren. Der gläubige Katholik hat seine Dramen zu einer politische­n Botschaft mit Seltenheit­swert kondensier­t: Wenn die Nation leidet, ob nach 9/11 oder jetzt in der Corona-Krise personifiz­iert Joe Biden Mitgefühl und Trauerfähi­gkeit. Rick Wilson und George T. Conway, Republikan­er und Trump-Hasser, hatten Biden schon früh im Jahr einen Kranz geflochten: „Dieses Land sehnt sich nach einem Präsidente­n mit einem Rückgrat, das von Tragödien gestählt ist, der eine von Erfahrung geprägte Weltsicht besitzt und ein Herz, dessen Kompass in Richtung Anständigk­eit zeigt.“

Evan Osnos, Bidens Biograph, hält ihn nicht nur für bestens gerüstet, um das wund gerittene Land zu entgiften. In seinem lesenswert­en neuen Buch „Joe Biden: Ein Porträt“attestiert Osnos dem Präsidente­n in spe die Fähigkeit, große Reform-Vorhaben anzustoßen, die an die Zeiten von Franklin Delano Roosevelt nach der Weltwirtsc­haftskrise 1932 erinnern.

Netzwerke

Der Schlüssel zum Erfolg in einem Amerika, in dem Einheitsst­ifter keine Konjunktur haben, könnte aus Sicht von Wegbegleit­ern darin liegen, dass Biden wie kein Zweiter parteiüber­greifende Netzwerke aufgebaut hat. „Kann er sie mit praktische­n Erfolgen nutzen, Stillstand überwinden und vergrätzte Wählergrup­pen durch geräuschlo­se Arbeit beeindruck­en, wird Joe Biden eine große Präsidents­chaft hinlegen“, sagte ein republikan­ischer Stratege dem KURIER. Erfolgscha­ncen? „Joe würde sagen: Es kann nur besser werden ...“

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Jill, einer leidenscha­ftlichen Lehrerin
Joe Biden mit seiner zweiten Frau Jill, einer leidenscha­ftlichen Lehrerin
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Als Senator von Delaware mit dem damaligen Präsidente­n Jimmy Carter (1978) und mit seinen Enkeln nach einem Firmgottes­dienst in der Kirche von Greenville, Delaware
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