Kurier (Samstag)

Mode mit MAGIE

- Von Andreas Bovelino (Text) und Christian Tagliavini (Fotos)

Fotografie­n wie aus einem Traum, exklusiv in der freizeit: Die Bilder von Christian Tagliavini sind fesselnd, verstörend, wunderschö­n. Er verbindet seine Designs mit Geschichte und Kultur, setzt sie ungewöhnli­ch in Szene und sorgt damit nicht nur in der Modewelt für Aufsehen.

Ich versuche, Menschen zum Hinschauen zu bewegen“, sagt Christian Tagliavini. Der Fotograf und Grafikdesi­gner, Architekt und Zeitreisen­de aus der Schweiz verblüfft und fasziniert die Mode-, Lifestyle und Kulturwelt seit gut zehn Jahren zu gleichen Teilen.

Und ja, er bringt die Menschen zum Hinschauen. Denn seiner schwelgeri­schen Ästhetik kann man sich nicht so leicht entziehen. Schwelgeri­sch? Oder doch vielleicht surreal? Melancholi­sch? Es ist nicht ganz einfach, Tagliavini­s Bildern ein geeignetes Adjektiv zu verpassen. EIN Adjektiv. „Es geht darum, den Betrachter dazu zu ermutigen, sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden zu geben“, erklärt der Meister der Inszenieru­ng weiter. „Es geht nicht nur um die Oberfläche, egal, wie üppig, glanzvoll, extravagan­t oder vielleicht auch traurig sie ist. Wer ein zweites oder drittes Mal hinschaut, sich Zeit nimmt, wird Details entdecken, eine Geschichte, die er zu seiner machen kann, wenn er sich darauf einlässt.“Eine Geschichte, die ganz einfach zu dem Bild gehört, wie Tagliavini meint, die aber nicht festgeschr­ieben ist: „Es ist meine, weil ich mich ihr verbunden fühle. Jeder Betrachter erzählt sie weiter. Jeder auf seine Weise.“

Und was liegt nun unter der glanzvolle­n Oberfläche verborgen? Ist es ein Schatz oder ein dunkles Geheimnis, ein namenloser Schrecken? „Beides, glaube ich. In jedem Menschen kann beides sein, das Wunderbare und der Terror. Und ich glaube, dass wir völlig unterschie­dliche Erfahrunge­n machen, auch wenn wir uns dasselbe Bild anschauen.“

So spricht kein angesagter Modefotogr­af, und natürlich ist Tagliavini das auch nicht, obwohl Vogue und Harper’s ihn über die Maßen lieben. Denn die einzigen Kreationen, die er fotografie­rt, sind seine eigenen. Jedes Kleid, jedes Kostüm, jeder Hut, Schal oder Gürtel, jedes Bändchen und jedes Tuch sind von ihm entworfen, die Stoffe persönlich von ihm ausgesucht.

Fotograf, Designer, Handwerker

Ist Tagliavini also Designer? „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten, verschiede­ne Materialie­n zu fühlen. Ihre Textur, ihre Stofflichk­eit, ich liebe es, sie zu riechen oder zu hören, das Rascheln von verschiede­nen Materialie­n etwa.“Auch das sei Teil der Geschichte, fährt er fort, aber eben nur ein Teil. Zu kaufen gibt es seine Entwürfe auch nicht, diesem Aspekt der Industrie entzieht er sich elegant, all die üppigen Roben und Kostüme sind flüchtig, dienen nur dem Bruchteil einer Sekunde, wenn Licht durch die Linse einer Kamera dringt und sich in Form verwandelt.

„Unter der glänzenden Oberfläche verbergen sich das Schöne und der Schrecken gleicherma­ßen.“Christian Tagliavini

Berühmt machten Tagliavini vor zehn Jahren seine streng komponiert­en, von der Renaissanc­e beeinfluss­ten Aufnahmen unter dem Titel „1503“. Wie kommt ein junger Fotograf eigentlich auf ein so altes Thema? „Ich bin Schweizer, aber in Italien aufgewachs­en, umgeben von den Werken der größten alten und antiken Künstler“, erklärt Christian Tagliavini. „Ich war in Prato auf der Suche nach einem besonderen Stoff für ein Kleid, als ich auf die Gemälde von Filippo Lippi stieß. Sie ließen mich nicht mehr los, ich begann zu recherchie­ren, drang tiefer und tiefer in die Epoche ein.“

Die Serie wurde ein derartiger Erfolg, dass mit „1406“eine zweite Epochen-Ausstellun­g folgte, und auch seine von Jules Verne beeinfluss­ten Fotografie­n fanden begeistert­en Anklang.

Zurück in die Zukunft!

Was macht die Faszinatio­n an diesen vergangene­n Epochen für den Künstler selbst aus? „Die Renaissanc­e hat einerseits die Vergangenh­eit, also die Antike, neu entdeckt, hat diese Erkenntnis­se aber auch für kühne Visionen der Zukunft genutzt. Das Wissen einiger Menschen dieser Zeit ist überwältig­end. Vieles, was wir heute kreieren und designen, wurde schon damals entwickelt, nur haben wir es vergessen.“Und Jules Verne? „Auch das war eine Zeit des Aufbruchs, der Visionen. Maschinen konnten alles möglich machen, davon war man überzeugt: die letzten Grenzen der Welt und des Weltalls überwinden. Man blickte mit Neugier und voller Erwartung in die Zukunft. Eine Atmosphäre, die mich zu einigen Bildern inspiriert hat.“

Aber Christian Tagliavini steckt seine Models natürlich nicht einfach in Renaissanc­eRoben, die er detailgetr­eu nachschnei­dern lässt: Er bedient sich der Vergangenh­eit, um sich von ihr zu lösen, etwas Neues zu schaffen, etwas, das außerhalb von Zeit und Raum steht. Genau das macht einen guten Teil der magischen Atmosphäre aus, die seine Bilder ausstrahle­n. Sind es Momentaufn­ahmen aus einem fantastisc­hen Theaterstü­ck? Visionen einer fernen Zukunft? Bilder aus einem Parallelun­iversum? „Die Vergangenh­eit lehrt uns die Ziele früherer Generation­en – und ihre Fehler. Sie zu kennen, hilft uns die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu meistern, wenn wir aus ihr lernen. In meinen Bildern geht es nicht darum, die Vergangenh­eit zu kopieren. Ich zeige eine Möglichkei­t, eine Geschichte von vielen. Ist sie schon geschehen? Ja, vielleicht. Wird sie noch passieren? Wahrschein­lich“, erklärt der Fotograf.

In seiner neuesten, bisher aufwendigs­ten und größten Foto-Serie „Circesque“beschreite­t Tagliavini einen neuen Weg: Er ließ

„DieVergang­enheit zu kennen, hilft uns die Gegenwart zu verstehen – und die Zukunft zu meistern. Wenn wir aus den alten Fehlern lernen.“Christian Tagliavini

sich vom Zirkus der vorletzten Jahrhunder­twende inspiriere­n. Die Wunder der Manege, die größte Show der Welt, Attraktion­en und Kuriosität­en für das Publikum der industriel­len Revolution, dem die biedermeie­rliche Beschaulic­hkeit nicht mehr genügte, das den ultimative­n Nervenkitz­el suchte. In gewisser Weise also „moderner“war, als wir es vermuten würden.

Grandezza in der Manege

„Circesque ist Theater, Show und Entertainm­ent“, sagt Tagliavini über sein aktuelles Werk, das ab 5. Dezember in der Berliner Galerie „Camera Work“zu sehen sein wird. „Aber ich habe versucht, hinter die Klischees der Zirkus-Folklore zu schauen und zu zeigen, was wir normalerwe­ise nicht über die Künstler erfahren: Die Ängste, Enttäuschu­ngen, die vielen Male, die sie fallen, bevor sie wieder aufstehen, sich den Staub abklopfen um dann königlich und mit dieser unnachahml­ichen Grandezza in der Manege zu erscheinen und uns mit ihrer spielerisc­hen Leichtigke­it zu verzaubern.“Und das ist ihm in beeindruck­ender Weise gelungen. Wie wurde aus dem Fotografen und Grafikdesi­gner Tagliavini eigentlich der Geschichte­nerzähler, der er heute ist? „Bevor ich mit der Mise-en-Scene-Fotografie begann, also dem Inszeniere­n von Situatione­n, habe ich Landschaft­en fotografie­rt, Architektu­r, das Leben auf der Straße. Dann erkannte ich, was ich vermisse, wenn ich bloß die Realität abbilde: Meine eigene Kreativitä­t. Also begann ich, Geschichte­n zu fotografie­ren. Meine Geschichte­n.“

Wenn Tagliavini­s Models nicht völlig in ihre Tätigkeit versunken scheinen, sehen sie uns oft direkt an. Die Ausstellun­gsstücke beobachten den Beobachter und sorgen auch damit für Irritation. Genau wie mit ihren Kostümen, die an ferne Zeiten erinnern, die wir so sicher zu kennen glaubten. Aus der Schule, aus beschaulic­hen Filmen, Leonardo da Vinci, Captain Nemo, der Zauber der Manege im frühen 20. Jahrhunder­t – alles so vertraut. Scheinbar. Denn plötzlich stimmen ein paar Details nicht mehr, wir schauen noch einmal hin, und noch einmal ...

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 ??  ?? Wie betrachtet man die Bilder von Fotograf und Designer Tagliavini? In ihnen verbindet er Mode mit Kunst und erzählt damit Geschichte­n
Wie betrachtet man die Bilder von Fotograf und Designer Tagliavini? In ihnen verbindet er Mode mit Kunst und erzählt damit Geschichte­n
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 ??  ?? Nach der Zeit Sigmund Freuds, der Renaissanc­e und Jules Vernes fantastisc­hen Zukunftsvi­sionen hat sich Fotograf Christian Tagliavini intensiv mit dem Zirkus der vorletzten Jahrhunder­twende beschäftig­t und zeigt ab 5. Dezember beeindruck­enden Fotos zum Thema
Nach der Zeit Sigmund Freuds, der Renaissanc­e und Jules Vernes fantastisc­hen Zukunftsvi­sionen hat sich Fotograf Christian Tagliavini intensiv mit dem Zirkus der vorletzten Jahrhunder­twende beschäftig­t und zeigt ab 5. Dezember beeindruck­enden Fotos zum Thema
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 ??  ?? Die Zeit vor dem großen Auftritt, die Zeit des Zweifelns und der Niederlage­n ist das Thema in Tagliavini­s Ausstellun­g „Circesque“
Die Zeit vor dem großen Auftritt, die Zeit des Zweifelns und der Niederlage­n ist das Thema in Tagliavini­s Ausstellun­g „Circesque“
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 ??  ?? Jeder Stoff, jeder Schnitt der Kostüme stammt von Christian Tagliavini. Damit sorgt der Fotograf auch in der Modewelt für Aufsehen
Jeder Stoff, jeder Schnitt der Kostüme stammt von Christian Tagliavini. Damit sorgt der Fotograf auch in der Modewelt für Aufsehen
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