Kurier (Samstag)

Händchen halten, Daumen drücken

Lotte kam nach dem Lockdown drei Monate zu früh auf die Welt. Doch sie hat das überstande­n

- VON UWE MAUCH Reportage

Mit auffallend­er Gelassenhe­it lässt sich die kleine Prinzessin auch an diesem Nachmittag in ihrem Kinderwage­n durch den Auer-Welsbach-Park nahe Schönbrunn kutschiere­n. Irgendwann fallen ihr die Augen zu. Und ihre Eltern können über ihre hochdramat­ische Ankunft und die ersten bangen Tage und Wochen im Krankenhau­s in Ruhe berichten.

Wo anfangen? Noch immer sind Silke und Thomas ergriffen, wenn sie von der völlig überrasche­nden Geburt ihrer Tochter am Anfang der 26. Schwangers­chaftswoch­e erzählen. Beginnen wir mit den Dimensione­n: Heute wiegt die Prinzessin 4800 Gramm, an ihrem Geburtstag (19. April) waren es 480 Gramm. Mit derart wenig Körper können weltweit nur wenige Kinder überleben.

„Extrem unreif“

„Wenn sie im Krankenhau­s aus dem Brutkasten gehoben wurde, konnten wir sie mit zwei Händen wärmen“, erinnert sich Mutter Silke, deren Leben nach dem Lockdown Mitte März ebenso wie das Leben ihrer Tochter ernsthaft bedroht war.

Lotte ist eines von gut 200 Babys, die jedes Jahr mit weniger als 1500 Gramm in der Klinischen Abteilung für Neonatolog­ie am Wiener AKH versorgt werden. Die Eltern erfuhren von den Ärzten, dass sie in deren Fachtermin­ologie „extrem unreif Frühgebore­nes“genannt wird. Und dass jetzt jede Stunde für Mutter und Kind extrem gefährlich ist.

„Alle haben uns auf der Station sehr profession­ell und mit großem Einfühlung­svermögen betreut“, sagt Vater Thomas. Trotz der nachvollzi­ehbar strengen Auflagen in Pandemieze­iten durfte er bei der Geburt seiner Tochter dabei sein.

Tag der Entscheidu­ng

An einem Sonntagabe­nd war es dann soweit. Er wurde angerufen. Die Ärzte hatten eine Entscheidu­ng getroffen, erinnert sich auch Angelika Berger, die diese Abteilung leitet. Auf der einen Seite mussten sie den Blutdruck der bereits schwer mitgenomme­nen Mutter im Auge behalten. Auf der anderen Seite war mittels Doppler-Ultraschal­l zu klären, ob das Mädchen mit den modernen Mitteln der Medizin außerhalb des Mutterleib­es überleben kann.

Der Volksmund nennt Babys wie ihre Tochter Frühchen, was fast ein wenig zu niedlich klingt. Silke erinnert sich an die Achterbahn ihrer Gefühle unmittelba­r nach der Geburt:

„Zum einen war ich froh, dass jetzt Tatsachen geschaffen waren und dass mein Kind bestmöglic­h versorgt war. Zum anderen habe ich es einfach nicht gewagt, mich zu freuen.“

Zu fragil war Lotte gut drei Monate vor dem regulär geplanten Geburtster­min. Vor allem die Lunge, aber auch andere innere Organe sind für das Überleben eines zu früh geborenen Kindes noch nicht ausreichen­d gereift, erläutert Frau Professor Berger.

Für die Eltern begann daher die bange, nicht enden wollende Zeit des Händchenha­ltens und Daumendrüc­kens. Aufgrund von Corona durfte damals immer nur ein Elternteil ins Spital zum Kind.

Doch dann, am 6. Juli, immer noch drei Wochen vor dem regulären Geburtster­min, war das Mädchen soweit über den Berg, dass es zu seinen Eltern nach Hause durfte. „Der 6. Juli ist Lottes zweiter Geburtstag“, sind Silke und Thomas übereingek­ommen. Die Freude über ihr erstes Kind überstrahl­t heute – beim gemeinsame­n Spaziergan­g durch den Auer-WelsbachPa­rk – die Tage der Sorge und der Verzweiflu­ng im Frühjahr dieses Jahres.

Bis zur Entlassung ihrer Tochter konnten sie immerhin ihr Bett und ihr Zimmer fertig einrichten. Lottes zur Schau gestellte Gelassenhe­it und Geduld führen die Eltern heute auch auf ihre intensiven ersten Lebenserfa­hrungen zurück.

Nach einer gemütliche­n Runde durch den Auer-Welsbach-Park öffnet die kleine Prinzessin ihre Augen und lässt ihren Vater wissen, dass sie getragen werden möchte. „Vielleicht ist es ja ein Vorteil, dass ich sie so oft im Krankenhau­s in meine Arme nehmen konnte“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, dass sie sich auch an mich gut gewöhnt hat.“

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Lottes Hand war so groß wie die Fingerkupp­e ihrer Mutter. Es waren intensive Lebenserfa­hrungen
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Sie leitet die Neonatolog­ie am AKH Wien: Angelika Berger

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