Wohnen im Lockdown
Homeoffice, Ausgangssperren, Abstandsregeln – die Corona-Maßnahmen führen dazu, dass wir mehr Zeit denn je in unseren eigenen vier Wänden verbringen. Was macht dieses viele „Daheim-Sein“mit uns?
» Das Schlafzimmer? Ist jetzt auch Homeoffice und YogaRaum. Der Küchentisch? Multifunktional eingesetzt als Ess- oder Schularbeitsplatz – dekorative Bücher- und Zettelwirtschaft inklusive. Das Wohnzimmer? Neu als Fitnessraum und Kinosaal in Verwendung.
Dass Corona uns zu immer häufigerem Daheim-Sein zwingt, wirkt sichaufunsereArtzuWohnenaus. Nie zuvor haben wir unsere privaten Räume so intensiv er- und belebt wie in Zeiten des Lockdown. Doch was bewirkt das? Lieben oder hassen wir unsere Wohnung, wenn wir so viel Zeit in ihr verbringen? Machen wir es uns schöner oder vernachlässigen wir das Heim? All das sind Fragen, die auch Harald Deinsberger-Deinsweger – Gründungsmitglied und Vorstand des Instituts für Wohnund Architekturpsychologie – beschäftigen: „Die Wirkung unseres Zuhauses ist primär abhängig von den wohnpsychologischen Qualitäten“, erklärt er. Diese Qualitäten geben den Ausschlag dafür, ob wir uns in den eigenen vier Wänden erholen und entspannen können oder ob es in Richtung BurnoutoderDepressiongeht.Sogarob wir uns auch in Familie und Partnerschaft vertragen oder ob Konflikte, Zwist und Scheidungsraten zunehmen, bestimmen sie mit.
Freilich präsentiert sich die Situation für jeden anders: Singles fühlen sich häufig allein, während Eltern mit Kleinkindern nirgends mehr Ruhe finden. Frisch Verliebte spüren, dass die Pärchenwohnung manchmal zu viel Nähe bedeutet, während Senioren ihre Häuser als groß und still empfingen. Wie man auf das neue Wohnen reagiert, bestimmen Persönlichkeitsstruktur und Budget: Ratlose Geister würden am liebsten umziehen, Pragmatiker investieren in neue Innenausstattung, Gutbetuchte in ein Häuschen »
„Es stellt keine Utopie dar, Wohnanlagen zu planen, die nicht nur Homeoffice-tauglich sind, sondern in denen man es auch im Lockdown ein paar Wochen aushält“
Harald Deinsberger-Deinsweger, Institut für Wohn- und Architekturpsychologie
am Land. Jeder zweite Österreicher, so belegt eine Umfrage, ist derzeit aktiv auf der Suche nach einer neuen Immobilie: Am liebsten mit Freifläche und gerne zum Kauf.
Im zweiten Lockdown, so meint der Wohnpsychologe, würden die Auswirkungen der Stärken und Schwächen der Wohnung noch stärker spürbar: „Aber da sich die Wirkungen von Räumen überwiegend auf unbewussten Wegen vollziehen, können Menschen häufig nicht benennen, warum sie sich in einer Wohnung unwohl fühlen. Wir können vielfach nicht unmittelbar erkennen, dass die Ursachen für Konflikte auch an den räumlichen Konstellationen liegen können.“In der CoronaZeit, in der die psychische Belastung generell steigt, werden diese Aspekte jedoch bewusster. Ob sie sich auch im Wohnbau niederschlagen, bleibt offen. Deinsberger-Deinsweger: „Ich kann nur hoffen, dass es so ist. Dass sich mehr Menschen, vor allem mehr Verantwortungsträger, für wohnpsychologische Zusammenhänge und Forschungsergebnisse interessieren und diese auch systematisch in Bauprojekte integrieren.“Wichtig sei das Bewusstsein, dass wir keine Gebäude, sondern menschliche Lebensräume planen und bauen sollten: „Das ist der große Paradigmenwechsel, der eigentlich schon vor Corona begonnen und nun eine zusätzliche Dynamik erhalten hat.“
Ein Detail wäre etwa die Herstellbarkeit persönlicher Nischen.
Deinsberger-Deinsweger: „Man sollte Grundrisse entwickeln, die es ermöglichen, dass für jede Person im Haushalt zumindest ein kleiner Bereich zur Verfügung steht, der nur ihr gehört und der bei Bedarf auch abtrennbar ist .“Derzeit heißt es aber für die meisten mit dem auskommen, was an Wohnraum vorhanden ist. In städtischen Gebieten bedeutet das oft kleine Flächen. DeinsbergerDeinsweger: „Je kleiner eine Wohnung ist, desto mehr Qualitäten muss sie, das Gebäude sowie das Wohnumfeld aufweisen.“
Denn rein in Quadratmeter ist Wohnqualität nicht messbar. Was zählt, ist die Erfüllbarkeit von menschlichen, psychologischen und physiologischen Kriterien. „Man müsste bei kleineren Wohnungen mehr wissenschaftlich fundiertes Know-how einbringen. Das herkömmliche Planungswissen reicht hier bei weitem nicht“, so der Lektor für Wohn- und Architekturpsychologie.
Die Corona-Zeit ist also auch aus architekturpsychologischer Sicht herausfordernd. Wie kann man mit der Situation umgehen? Deinsberger-Deinsweger: „Die Empfehlung lautet, die psychologischen Forschungsergebnisse stärker zu nutzen, wenn es um die Wohnungsauswahl, -gestaltung und Planung geht. Es stellt aus wissenschaftlicher und finanzieller Sicht keine Utopie dar, Wohnanlagen zu planen, die nicht nur Homeoffice-tauglich sind, sondern in denen man es auch im Lockdown ein paar Wochen aushält.“»