Kurier (Samstag)

welt FABELHAFTE

- Vea Kaiser vea.kaiser@kurier.at

Als ich Kind war, musste jeden Abend der weniger müde Erziehungs­berechtigt­e aus meinem Lieblingsb­uch vorlesen, eine in gelbes Leinen gebundenen Ausgabe von Grimms Kinder- und Hausmärche­n – bis der lesende Elternteil einschlief. Dann schnappte ich dieses große, weiche, so göttlich nach altem Papier duftende Buch und trug es ins Wohnzimmer, auf dass der andere Elternteil weiterlese. Wie jeder Junkie bekam auch ich nie genug. Meine Großmutter erzählt, dass ich schon als Kleinstkin­d alle erreichbar­en Bücher, egal ob Bibel oder Vegetarisc­he Hausmannsk­ost, an mich riss, und ihr damit auf den Schoß kletterte: „Oma lesen, dass ’ea weiß“. Vorlesen appelliert an die menschlich­e Neugier, Vorlesen regt die Fantasie an, Vorlesen verbindet Menschen.

Mein Dottore Amore verliebte sich nicht in mich, als wir uns am Donaukanal kennenlern­ten. Sondern als ich ihn, nachdem wir nachhause gegangen waren, nachts anrief, um ihm aus einem Roman vorzulesen. Laut Eigenaussa­ge beschloss er damals, mich zu heiraten. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil wir alle mehr vorlesen müssen. Einer frisch publiziert­en Studie zufolge liest über ein Drittel der Eltern ihren Kindern nicht vor, dabei lieben es über 90 Prozent der Kinder, wenn ihnen vorgelesen wird. Die befragten Eltern gaben an, im Haushalt zu viel zu tun zu haben oder sich das Vorlesen nicht zuzutrauen. Dabei ist vorlesen so simpel. Man muss nicht schauspiel­ern oder eine besondere Stimme haben. Im Smartphone­zeitalter muss man sich nicht einmal persönlich treffen, die Magie des Vorlesens ist stark genug, um räumliche Grenzen zu überwinden. Am Mittwoch ist der große Vorlesetag. Machen Sie mit, lesen Sie Ihren Kindern, Enkerln, Nichten, Liebhabern, Nachbarinn­en, Freunden, Familienmi­tgliedern, Haustieren oder Zimmerpfla­nzen vor – von nah oder fern. Man kann einander zurzeit nicht genug Gutes tun.

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