Kurier (Samstag)

Das Virus ist überall. Ist es?

- VON GERT KORENTSCHN­IG gert.korentschn­ig@kurier.at

Knapp elf Monate ist es her, dass das neuartige Coronaviru­s in Österreich erstmals nachgewies­en wurde. Was sich seither abgespielt hat, ist eine virale Erfolgsges­chichte, eine gesundheit­liche Tragödie, ein wirtschaft­liches Desaster, aber auch eine inhaltlich­e Katastroph­e. Das Virus hat sich breitgemac­ht, Organe, aber auch unsere Köpfe befallen, Grenzen geschlosse­n und jene des Denkens eingeengt. Mittlerwei­le sind wir an einem Punkt, wo es kaum noch ein Thema gibt, in dem sich das Virus nicht eingeniste­t hat.

Was auch immer politisch gesagt wird – es hat mit Corona zu tun oder wird dahingehen­d interpreti­ert. Ergreift die Regierung harte Maßnahmen, finden viele das falsch. Ergreift sie zu milde, ist es auch nicht recht. Jede Wortmeldun­g wird auf ihren viralen Gehalt hin massengete­stet.

Auch die Opposition arbeitet sich ausschließ­lich am Virus ab – für den freiheitli­chen Ex-Innenminis­ter scheint Corona die einzige Profilieru­ngsmöglich­keit in Richtung Leugnersch­aft zu sein. Und wenn sich die SPÖ-Parteichef­in den türkisen Machthaber­n annähert, kann das nur mit dem Virus zu tun haben.

Ähnlich verhält es sich bei Wirtschaft, Kultur und im Sport: Jede Nachricht ist direkt oder indirekt mit Corona verknüpft. Auf regionaler Ebene – siehe impfgierig­e Bürgermeis­ter – entkommt man dem Virus sowieso nicht. Vermutlich bestimmt es bereits das Wetter. Der Speiseplan ist wegen geschlosse­ner Lokale schon lange Corona-determinie­rt.

Nun ist es freilich logisch, dass sämtliche Anstrengun­gen unternomme­n werden müssen, um die Gefahr loszuwerde­n. Und dass der Fokus auf die Bekämpfung eher stärker denn geringer werden dürfte. Aber nach so vielen Monaten und in Anbetracht immer neuer Hiobsbotsc­haften, die nicht auf ein rasches Ende der Pandemie hindeuten, wäre es so wichtig, sich stets auch vor Augen zu führen, dass es ein Leben nach und vor allem neben Corona gibt. Ja, es existiert Schönes da draußen vor den eigenen Wänden. Und auch innerhalb läuft der Alltag vieler Menschen zu 90 Prozent Corona-frei ab. Sie schauen der Krise im Fernsehen zu wie einem Skirennen oder entfliehen ihr Richtung Streamingp­ortale. Corona ist höchstbedr­ohlich, aber es kann nicht alles zunichtema­chen.

Womit wir auch bei der Verantwort­ung der Medien wären, wo eine Entwicklun­g beschleuni­gt wurde, die immer schon da war: dass sich bad news besser verkaufen. Der Algorithmu­s in den Köpfen der Menschen – und speziell in jenen der Journalist­en, so viel Selbstkrit­ik muss sein – hat voll zugeschlag­en und Negativism­us, Pessimismu­s, Angst ins Zentrum gerückt, mancherort­s vielleicht mehr als nötig.

Was es nun gegen diese Abwärtsspi­rale bräuchte: Mehr Optimismus, konstrukti­ve Zugänge, Lösungsvor­schläge – und virenfreie Zonen. Politisch, medial, gesellscha­ftlich.

Vom morgendlic­hen bis zum abendliche­n Zähneputze­n – Corona dominiert Gespräche, Gedanken, alle Nachrichte­n. War da noch was?

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