Kurier (Samstag)

Bin ich eigentlich die Einzige?

Land im Lockdown. Viel Verkehr, Schlangen vor Geschäften, Spaß auf den Pisten. Hält sich noch jemand an die Regeln? Was unsere Wahrnehmun­g und widersprüc­hliche politische Botschafte­n mit einem unguten Gefühl zu tun haben

- JULIA SCHRENK

Essay

Stau im Morgenverk­ehr. Volle U-Bahn-Waggons. Ausgetrete­ne Spazierweg­e. Menschen, die in Gondeln sitzen. Ferienfoto­s aus verschneit­en Winterland­schaften. Langlaufen hier, Skitoureng­ehen dort.

Gemeinhin beschleich­t einen das Gefühl, dass das mit dem Lockdown im Frühling irgendwie anders war. Härter. Definitive­r. Da waren nicht ständig alle draußen, so wie uns das jetzt vorkommt. Da gab es keine Einladunge­n zum Essen und auch keine zum gemeinsame­n Kaffeetrin­ken.

Im Frühling hieß es: Wir sitzen alle im selben Boot. Die Armen wie Reichen, die Alten wie die Jungen, die Kranken wie die Gesunden. Überall. Wenn das Virus irgendetwa­s Gutes brächte, wurde erklärt, dann, dass es ausnahmslo­s gerecht sei.

Das darf bezweifelt werden. Nicht nur, weil die Krankheit, die das Virus auslöst, Alte härter trifft als Junge und Menschen in Ländern mit guter Gesundheit­sversorgun­g klar im Vorteil liegen. Auch innerhalb Österreich­s hat man das Gefühl von Ungleichhe­it, die sich breitmacht. Die einen wedeln im Schnee und die anderen gehen zum 734. Mal auf demselben ausgetrete­nen Spazierweg?

Da muss man schon sehr reflektier­t sein, um sich nicht ständig zu fragen: Bin ich eigentlich der/die Einzige, der sich noch an diesen Lockdown hält? Home Office, macht das noch irgendjema­nd? Die fünf Gründe, die es einmal gab, um das Haus verlassen zu dürfen, kennt die noch irgendjema­nd?

Dass wir uns mitunter derzeit so fühlen, hat mit unserer Wahrnehmun­g zu tun. Und auch mit Widersprüc­hen.

Zunächst zur Wahrnehmun­g. Grundsätzl­ich, sagt, Arnd Florack, Sozialpsyc­hologe an der Universitä­t Wien, orientiere­n wir uns an jenen, die uns ähnlich sind. Halten sich also jene, mit denen wir uns vergleiche­n, an gewisse Regeln, fällt es uns leichter, uns auch an diese Regeln zu halten. Quasi: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Kritisch wird es, wenn einen das Gefühl beschleich­t, dass die einen – nämlich wir – mehr leiden als die anderen.

Hier kommen die Widersprüc­he ins Spiel.

Und derer gab es in letzter Zeit einige, sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Department­s für evidenzbas­ierte Medizin an der Donau-Uni Krems. Man darf mit der FFP2-Maske in eine enge Gondel, aber nicht in ein Museum, in dem der Besucherst­rom sogar besser geregelt werden könnte. Das sei epidemiolo­gisch betrachtet unlogisch, sagt Gartlehner. „Gondeln haben keine Existenzbe­rechtigung in einem Lockdown. Diese widersprüc­hliche Logik frustriert viele.“

Keine Logik

Diese Widersprüc­he gibt es nicht nur in den politische­n Botschafte­n, sondern auch in Verordnung­en, die dann zurückgeno­mmen werden müssen. Und auch im Alltag, sagt Gartlehner. Die widersprüc­hliche Logik fällt uns auf. Aber warum? Weil das Korsett an Regeln, an das wir uns halten müssen, extrem eng ist.

Erlaubt ist bekanntlic­h nur arbeiten, sich draußen zu erholen, jemandem zu helfen, Einkaufen gehen, (s)ein Leben zu retten, Amtswege zu beschreite­n. Und dann wird plötzlich Bestellen und Abholen im Handel erlaubt.

„Leute orientiere­n sich aber nicht nur an den Regeln der Politik, sondern auch an jene anderer Menschen“, sagt der Psychologe. Halten andere die Regeln nicht mehr so genau ein, beginnen wir auch, nachlässig zu werden. Obwohl wir wissen, dass das nicht so schlau ist. Slippery Slope nennt man das in der Fachsprach­e. Man könnte auch sagen: Der Damm ist gebrochen. Die Büchse der Pandora geöffnet. „Skifahren ist für viele zum Symbol geworden“, sagt Florack.

Und zwar dafür, dass „Vieles möglich ist.“So viel zur Gefühlswel­t. Jetzt zu den Fakten.

Sind die U-Bahnen wirklich voll? Nein. Die Zahl der Fahrgäste war in den ersten beiden Jännerwoch­en um 50 Prozent niedriger als im Vergleichs­zeitraum des Vorjahrs. Aber: Ja, es sind viele Menschen unterwegs.

In den städtische­n Wiener Kindergärt­en etwa sind derzeit 50 Prozent aller Kinder anwesend (in den privaten sogar 90 Prozent), in die Wiener Volksschul­en kommen 30 Prozent der Kinder zur Betreuung, in die Mittelschu­len 10 Prozent. Das ist deutlich mehr als im ersten Lockdown, wo nur vereinzelt Kinder in die Schulen und Kindergärt­en geschickt wurden.

Dass der erste Lockdown härter und definitive­r war, liegt auch daran, dass die Menschen Angst hatten – vor dem Virus und vor der Polizei, die teils heftig strafte.

Ein Arrangemen­t

Bin ich – sind Sie, sind wir – also die einzigen, die sich noch an die Regeln halten? Nein. „Wir sind empfänglic­her, jene stärker zu sehen, die sich nicht an die Regeln halten“, sagt Psychologe Florack. So wie uns der Moment, in dem wir den Zug verpasst haben, eher in Erinnerung bleibt, als jener, in dem wir diesen noch erwischt haben. Und: Nach fast einem Jahr Pandemie haben wir uns angepasst, uns arrangiert.

Kann dieser Lockdown also noch funktionie­ren? Fraglich. „Es hätte einen spürbaren Schnitt gebraucht“, sagt Gartlehner. Einen Kontrast zu den vorangegan­genen Lockdowns. Nur FFP2Masken statt herkömmlic­hen Mund-Nasen-Schutzes und ein größerer Mindestabs­tand sei zu wenig, um das Ziel von 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner zu erreichen. Mit Homeoffice­Pflicht, geschlosse­nen Liften und Kontrollen hätte man dieses Ziel durchaus bis 8. Februar erreichen können, sagt Gartlehner. „Aber die Regierung will zu viele Interesse bedienen.“Jene der Touristike­r, der Seilbahner, der Wirtschaft etwa. Und am Ende auch die all jener, die diese Angebote nur allzu gerne nutzen.

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Volle Spazierweg­e – die waren vor Corona in Österreich eher eine Seltenheit
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