„Dann würde eine Notbremse gezogen“
Rudolf Anschober. Warum der Gesundheitsminister einen Beraterstab für die psychischen Folgen der Pandemie gründet, 20.000 zusätzliche Psychotherapieplätze geschaffen werden, und womit sich die Grünen nicht abfinden
Die Lockdown-Öffnung sei riskant, sagt Rudolf Anschober. Und: Koalitionsausstieg planen die Grünen keinen.
KURIER: Wird Tirol unter Quarantäne gestellt werden müssen?
Rudolf Anschober: Am Sonntag werden wir auf Basis der Sequenzierungen, der Massentests und des offensiven Kontaktpersonenmanagements analysieren und entscheiden, ob wir Zusatzmaßnahmen brauchen.
Um ein zweites Ischgl zu verhindern, Entwicklungen zu antizipieren, könnten Sie schon jetzt handeln.
Es wird gehandelt. Neben den Screenings und Massentests wird es schärfere Kontrollen bei Zweitwohnsitzen in Tirol geben. Die Mutanten aus Großbritannien und Südafrika sind derzeit europaweit ein Thema. Wir haben deshalb per Erlass verankert, dass alle positiven PCR-Tests auf Mutationsverdacht hin untersucht werden müssen.
Sollten nach einer Woche mit offenem Handel, Friseur etc. die täglichen Neuinfektionen bei 2.000 liegen, sperrt Österreich wieder zu?
Das kann niemand vollständig ausschließen. Steigen die Zahlen stark, dann würde eine Notbremse gezogen.
Notbremsung bei Reproduktionsfaktor 1, 2.000 Neuinfektionen, einer 7-Tages-Inzidenz von 200 österreichweit?
Wir werden ein Frühwarnsystem installieren mit Indikatoren, die sich nicht nur auf die Statistik beziehen, denn diese hat einen Verzögerungseffekt von einer Woche.
Genau deshalb nochmals die Frage: Wie riskant ist es, am 8. Februar den Lockdown zu lockern?
Es ist ein gewisses Risiko dabei. Wir müssen aber auch sehen, dass es für die Gesellschaft schwer erträglich ist, mit kurzen Unterbrechungen seit 4. November in einem Lockdown zu sein. Darunter leidet nicht nur die Wirtschaft massiv, sondern vor allem leiden viele Menschen. Wir sehnen uns nach nichts mehr als einer Perspektive. Bis Ostern werden die Hochrisikogruppen, rund eine Million Menschen, in Österreich geimpft sein, und die Situation wird auch durch das wärmere Wetter leichter sein.
28 % der Österreicher haben depressive Symptome, 24 % Angstzustände, 18 % Schlafstörungen, besagt eine Studie der Donau-Uni Krems. Prof. Plener von der Kinderpsychiatrie des AKH muss Triagen vornehmen, weil so viele Jugendliche seelisch aus dem Lot sind. Haben Politik und Gesellschaft zu wenig hingesehen?
Wir haben hingesehen, haben die Angebote stark verbessert, doch es ist schwierig, in einer Situation Negativentwicklungen zu verhindern, in der Angst im Zentrum steht. Existenzielle Sorgen, Jugendliche,
die hören, sie seien die Generation Corona und hätten keine Zukunft: das ist dramatisch für viele Jugendliche. Deshalb habe ich einen Beraterstab für psychosoziale Gesundheit gegründet, damit wir gleichwertig mit den medizinischen Experten die Situationen immer wieder neu bewerten. Dem Beraterstab wird Dr. Michael Musalek (Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit; Anm.) vorstehen.
Wir sind im elften Monat der Pandemie, und Sie gründen jetzt einen Beraterstab, der sich mit den psychischen Folgen auseinandersetzt?
Kinderpsychologen sind natürlich schon jetzt im virologischen Beraterstab vertreten, aber ich möchte eine eigene psychologische Expertise, weil mir Fachexperten sagen, dass die Phase nach der Pandemie noch schwieriger sein wird. Gerade wenn der pandemische Druck weniger wird, besteht das Risiko schwerer psychischer Folgewirkungen bis hin zu Selbstmordgedanken. Darauf müssen wir uns vorbereiten.
Wo müssen und können Sie Zusatzangebote machen?
Gibt es Psychotherapie Krankenschein?
Wir wollen den Zugang zur psychosozialen Versorgung in Österreich schrittweise massiv verbessern. Diese Schwäche im System gab es bereits vor der Pandemie, und sie ist grotesk: Wer von einer psychosozialen Erkrankung betroffen ist, der muss manchmal Monate auf eine Therapie warten. Man stelle sich vor, jemand bricht sich den Fuß und wartet Monate auf den Gips. Wir müssen psychische Erkrankungen mit körperlichen gleichstellen. auf
Menschen sind jetzt betroffen, wann wird ihnen konkret wo geholfen werden?
In allen Bundesländern wird es Clearingstellen geben, die den Betroffenen den Weg zur Unterstützung aufzeigen. Es gab bisher Betroffene, die lange auf einen Therapieplatz gewartet haben, aber eigentlich eine Schuldnerberatung brauchten. Genau dafür ist die Clearingstelle gut. Wir wollen heuer 20.000 zusätzliche Psychotherapieplätze schaffen.
20.000 Therapieplätze sind bei mehr als acht Millionen Einwohnern etwas mickrig.
Nein, das finde ich nicht, denn wir müssen die Strukturen erst schrittweise auf bauen. Es geht auch um zusätzliche Ausbildungen, neue gesetzliche Regelungen, das geht alles nicht von heute auf morgen.
Mit welchen Kollateralschäden rechnen Sie?
Präzise Zahlen haben wir noch nicht. Was wir wissen ist, dass Menschen – aus Angst vor Ansteckung besonders im ersten Lockdown – nicht zu Routineuntersuchungen gegangen sind. Wir wissen auch, dass die Zahl der normalen Schutzimpfungen bei Schülern im letzten Jahr stark zurückgegangen ist.
Wissen Sie von der Apothekerkammer oder Pharmaindustrie, wie es um den Absatz von Schlafmitteln und Psychopharmaka bestellt ist?
Die Daten werden gerade für uns erhoben, um auch daraus Rückschlüsse zu ziehen. Es ist anzunehmen, dass der Absatz der Medikamente in diesen Bereichen gestiegen ist.
Das Arbeiten im Homeoffice hat für viele nicht nur Vorteile. Viele wollen wieder zur Arbeit gehen, ihre Kollegen sehen, weil ihnen die Decke auf den Kopf fällt.
Die Pandemie ist ein Beschleunigungsinstrument. Überall dort, wo wir Krisen hatten, werden sie größer. Überall dort, wo Entwicklungen begonnen haben, gehen sie jetzt schneller vonstatten. Jede Veränderung bringt auch Sorgen. Wir werden uns neben den rechtlichen Rahmenbedingungen natürlich um die psychosozialen Folgen des Homeoffice kümmern. Es wird zudem um die Frage des sozialen Begleitens und der Vorsorge in und nach der Pandemie gehen, die wir mit Arbeitsminister Martin Kocher und mit Unterstützung der Sozialpartner beantworten wollen.
Nach der Abschiebung von Schülerinnen spricht Klubchefin Sigrid Maurer von einem „veritablen Konflikt“mit der ÖVP. Auch Sie als Ex-Landesrat gefragt, der Sie sich für „Ausbildung statt Abschiebung“eingesetzt haben: Wie veritabel ist der Konflikt?
Die Arbeit, die wir in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, funktioniert gut – vor allem angesichts der größten Pandemie seit 100 Jahren und der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben aber in Teilen der Asylfragen einen wichtigen Bereich, bei dem von Beginn an klar war, dass wir vollkommen unterschiedliche Positionen haben. Mir geht es um die Kinder und Jugendlichen, die hier bestens integriert sind und abgeschoben werden. Es ist natürlich ein Ringen und wäre das Schlimmste, sich damit abzufinden. Menschliche Lösungen, das ist neben dem Klimaschutz das, wofür Grüne brennen! Dass sie ihre Ideale haben und sich nicht damit abfinden, dass etwas nicht geht. Ich habe drei Jahre gearbeitet, damit die Initiative „Ausbildung statt Abschiebung“umgesetzt wird, damit also Asylwerber nicht während ihrer Lehre abgeschoben werden können.
Sollte es nach Moria und der Abschiebung zu einem dritten Disput in dem Bereich kommen, dann …
Wir planen keinen Ausstieg, sondern kämpfen für Verbesserungen.
„Wir müssen psychische Erkrankungen mit körperlichen gleichstellen“
Rudolf Anschober Gesundheitsminister