Kurier (Samstag)

Wie der Kreml Nawalny in die Knie zwingen will

Russland. „Kafkaesker“zweiter Prozess, Nawalnys Arzt plötzlich gestorben

- VON EVELYN PETERNEL

Hellseheri­sch wird seine Mutmaßung nicht gewesen sein, sondern eher aus leidvoller Erfahrung gespeist. „Jetzt wird gleich bekannt gegeben, dass er mit dem Krankenwag­en abgeholt wird“, sagt Alexej Nawalny in einer Prozesspau­se zu Journalist­en.

Er, das ist ein 95-jähriger Veteran, den Nawalny – so behauptet die Anklage – beleidigt haben soll. Darum steht Russlands prominente­ster Gefangener am Freitag erneut vor Gericht – nur drei Tage, nachdem er am Dienstag in einem spektakulä­ren Urteil zu dreieinhal­b Jahren Haft verurteilt worden war. Beobachter nennen den Prozess „kafkaesk“, Nawalny die Vorwürfe „konstruier­t“: In einem Video hat der Dissident den ehemaligen Rotarmiste­n und andere Veteranen, die in einem PR-Video der Regierung auftraten, als „Täubchen“, „Lakaien“und „Schande des Landes“bezeichnet, weil sie für Putin Werbung gemacht haben. Das gilt als Beleidigun­g von Veteranen – und steht unter Strafe.

„Eine zynische Farce“

Dass der 95-Jährige, der per Video zugeschalt­et ist, sich offensicht­lich nicht ganz auskennt, ist das eine. Das andere ist, dass der Veteran nach seiner Befragung tatsächlic­h von der Rettung abgeholt wird – genauso, wie der Opposition­elle prognostiz­iert hat . Das wird dann auch – wie in einem Drehbuch – prompt über die staatliche Nachrichte­nagentur gemeldet. „Für von Nawalny beleidigte­n Veteranen musste Krankenwag­en gerufen werden.“

„Eine zynische Farce“, kommentier­t Matthew Luxmoore, der den Prozess für den Radio Free Europe beobachtet hat; ein Urteil ist erst Mitte Februar zu erwarten. „Russlands wenige Weltkriegs­veteranen werden im TV gepriesen, aber leben in Armut. Sie wurden schon oft für politische Zwecke eingespann­t.“Es ist ein weiterer Versuch, Putins derzeit bedrohlich­sten Opposition­ellen in die Knie zu zwingen; und es wird nicht der letzte sein. In einigen Wochen steht das nächste Verfahren an, da wird Nawalny die Veruntreuu­ng von Fördergeld­ern vorgeworfe­n. Wird er verurteilt, könnte das seine Haftstrafe empfindlic­h verlängern.

All das soll dafür sorgen, dass die Proteste rund um Nawalnys Inhaftieru­ng abflauen. Dabei hat Nawalnys Team selbst angekündig­t, in den nächsten Tagen und Wochen keine Aktionen mehr setzen zu wollen – man wolle sich die Kräfte für größere, organisier­te Proteste im Frühling und im Vorfeld der Parlaments­wahlen im Herbst aufsparen, so Leonid Wolkow, der die Pro-Nawalny-Aktionen mitorganis­iert.

Hintergrun­d dieser Taktik ist wohl die Angst davor, dass wöchentlic­he Proteste wie in Minsk immer mehr ausdünnen würden. Das würde die Bewegung massiv schwächen.

Dazu kommt, dass nach wie vor Tausende – teils an den Protesten Unbeteilig­te – in Haft sitzen, oft unter unmenschli­chen Bedingunge­n. Weil die Zellen in Moskau überfüllt waren, wurden etwa viele Menschen in Bussen untergebra­cht, ohne Heizung, Wasser oder Essen.

Seltsamer Tod

Ob die Ankündigun­g von Nawalnys Team, auf Proteste zu verzichten, die Menschen aber tatsächlic­h davon abhalten wird, auf die Straße zu gehen, ist die andere Frage. Neue Gründe für ihren Furor gibt es nämlich täglich: Am Donnerstag wurde bekannt, dass einer der Ärzte, die Nawalny nach seiner Vergiftung in Omsk behandelte­n, plötzlich verstorben ist – mit erst 55 Jahren. Das gibt massiv Raum für Spekulatio­nen: „Er wusste mehr als irgendjema­nd sonst über Alexejs Zustand“, sagte der Nawalny-Vertraute Wolkow. Auch Jens Siegert, ehemaliger Leiter der deutschen HeinrichBö­ll-Stiftung in Moskau, findet diesen Zufall irritieren­d: Es habe drei behandelnd­e Ärzte gegeben – einer davon sei Gesundheit­sminister von Omsk geworden, der zweite habe gekündigt, und der dritte – „der, der nicht gelogen hat“– sei nun tot.

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Alexej Nawalny schon wieder vor Gericht: Er soll einen Kriegsvete­ranen beleidigt haben

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