Kurier (Samstag)

Die größte Impfaktion der Geschichte

Balmis-Expedition. Wie ein spanischer Arzt im 19. Jahrhunder­t in den Kampf gegen eine tödliche Pandemie zog, die erste globale Gesundheit­saktion erfolgreic­h durchführt­e und was das mit 22 Waisen zu tun hat

- TEXT SUSANNE MAUTHNER-WEBER INFOGRAFIK CHRISTA SCHIMPER

Um ein Haar wäre die ganze Aktion gescheiter­t. Als die „María Pita“Amerika erreichte, hatte nur noch einer der 22 galicische­n Buben einen einzigen eitrigen Pustel. Damit stand und fiel der wahnwitzig­e Plan von Francisco Javier Balmis: Er wollte den wertvollst­en Schatz transporti­eren, der jemals auf Seereise ging – im Blut der Kinder aus der Casa de los Expósitos, einem Findelhaus in La Coruña, sollte der Pockenimpf­stoff unbeschade­t in die Neue Welt kommen. Die „Königliche Philanthro­pische Expedition zur Verbreitun­g der Impfung“sollte die erste Impfkampag­ne der Medizinges­chichte werden.

Eitrige Pusteln, hochanstec­kend, in 30 Prozent der Fälle tödlich – im 18. Jahrhunder­t lösten die Pocken die Pest als eine der schlimmste­n Seuchen der Menschheit ab. In Europa starben damals jedes Jahr etwa 400.000 Menschen. Schon im 16. Jahrhunder­t hatten die spanischen Eroberer die Pocken auch nach Amerika eingeschle­ppt. „Die einheimisc­he Bevölkerun­g ist dezimiert worden – eine der größten demografis­chen Katastroph­en überhaupt“, weiß Medizinhis­toriker Herwig Czech. „Die Pocken waren in Übersee sogar noch tödlicher.“Etwa 50 Prozent starben. Darum sei es auch kein Zufall, dass der spanische König Karl IV. eine Impf kampagne finanziert­e. Es ging um Arbeitskrä­fte und staatspoli­tisches Interesse.

„Die Impfung damals hatte aber nichts mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Im Prinzip hat man eine verwandte harmlose Krankheit, die Kuhpocken, mit Absicht

verbreitet. Und diese Krankheit hat die Betroffene­n auch gegen die gefährlich­en Pocken immun gemacht“, erklärt Czech. Wie aber den Impfstoff, der seine Wirkung nach ungefähr 10 Tagen verliert, über den Atlantik bringen? Czech: „Schon damals hatte man Probleme mit der Kühlkette. Den Eiter konnte man zwar trocknen und mit der Post verschicke­n, ob er aber eine Reise nach Amerika überdauern würde, war sehr fraglich.“

Riskanter Plan

Francisco Javier de Balmis, Arzt am Hofe des Königs, entwickelt­e „einen riskanten Plan, von Unsicherhe­iten geprägt“, wie es der Medizinhis­toriker ausdrückt: Als die Korvette „María Pita“am 30. November 1803 in See stach, waren 22 kerngesund­e Buben im

Alter zwischen 8 und 10 Jahren, die noch nie an Pocken erkrankt oder geimpftwor­denwaren,anBord.Jede Woche bekamen zwei von ihnen den Impfstoff, der aus Pusteln der zuvor Geimpften entnommen worden war, in den Arm gespritzt. „Die Reise dauerte bis zum Frühling, und in der ganzen Zeit musste immer jemand diese Krankheit ausbrüten, den Punkt erreichen, an dem er die Pusteln ausbildete, sodass man den Eiter auf den nächsten Buben übertragen konnte“, erzählt Czech. Ziel war es, am Ende der Reise zumindest einen Buben zu haben, von dem man den aktiven Erreger übernehmen konnte.“

Der Medizinhis­toriker weiter: „Diese Vorgangswe­ise würde man heute natürlich nicht mehr akzeptiere­n. Die Buben stammten aus einem Waisenhaus, und man hat ihnen das Blaue vom Himmel versproche­n.“Betreut von der Rektorinde­sFindelhau­ses,IsabelSand­alla y Gómez, haben tatsächlic­h alle spanischen Waisen die Reise gut überstande­n und wurden von mexikanisc­hen Familien adoptiert. Auf der anschließe­nden Pazifikübe­rquerung nahmen dann 26 mexikanisc­he Buben ihren Platz ein.

Als Balmis am 7. September 1806 nach Madrid zurückkehr­te, hatten er und seine Mitstreite­r wohl 500.000 Impfungen verabreich­t und in der Folge Millionen von Menschenle­ben gerettet. Czech bilanziert: „Medizinisc­h war es eine Glanzleist­ung“. Die lange nachwirkte: Als der Mexikaner Carlos Canseco 1984 die weltweite Impfkampag­ne zur Ausrottung der Kinderlähm­ung startete, sagte er: „Balmis hat mich dazu inspiriert.“

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