Die größte Impfaktion der Geschichte
Balmis-Expedition. Wie ein spanischer Arzt im 19. Jahrhundert in den Kampf gegen eine tödliche Pandemie zog, die erste globale Gesundheitsaktion erfolgreich durchführte und was das mit 22 Waisen zu tun hat
Um ein Haar wäre die ganze Aktion gescheitert. Als die „María Pita“Amerika erreichte, hatte nur noch einer der 22 galicischen Buben einen einzigen eitrigen Pustel. Damit stand und fiel der wahnwitzige Plan von Francisco Javier Balmis: Er wollte den wertvollsten Schatz transportieren, der jemals auf Seereise ging – im Blut der Kinder aus der Casa de los Expósitos, einem Findelhaus in La Coruña, sollte der Pockenimpfstoff unbeschadet in die Neue Welt kommen. Die „Königliche Philanthropische Expedition zur Verbreitung der Impfung“sollte die erste Impfkampagne der Medizingeschichte werden.
Eitrige Pusteln, hochansteckend, in 30 Prozent der Fälle tödlich – im 18. Jahrhundert lösten die Pocken die Pest als eine der schlimmsten Seuchen der Menschheit ab. In Europa starben damals jedes Jahr etwa 400.000 Menschen. Schon im 16. Jahrhundert hatten die spanischen Eroberer die Pocken auch nach Amerika eingeschleppt. „Die einheimische Bevölkerung ist dezimiert worden – eine der größten demografischen Katastrophen überhaupt“, weiß Medizinhistoriker Herwig Czech. „Die Pocken waren in Übersee sogar noch tödlicher.“Etwa 50 Prozent starben. Darum sei es auch kein Zufall, dass der spanische König Karl IV. eine Impf kampagne finanzierte. Es ging um Arbeitskräfte und staatspolitisches Interesse.
„Die Impfung damals hatte aber nichts mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Im Prinzip hat man eine verwandte harmlose Krankheit, die Kuhpocken, mit Absicht
verbreitet. Und diese Krankheit hat die Betroffenen auch gegen die gefährlichen Pocken immun gemacht“, erklärt Czech. Wie aber den Impfstoff, der seine Wirkung nach ungefähr 10 Tagen verliert, über den Atlantik bringen? Czech: „Schon damals hatte man Probleme mit der Kühlkette. Den Eiter konnte man zwar trocknen und mit der Post verschicken, ob er aber eine Reise nach Amerika überdauern würde, war sehr fraglich.“
Riskanter Plan
Francisco Javier de Balmis, Arzt am Hofe des Königs, entwickelte „einen riskanten Plan, von Unsicherheiten geprägt“, wie es der Medizinhistoriker ausdrückt: Als die Korvette „María Pita“am 30. November 1803 in See stach, waren 22 kerngesunde Buben im
Alter zwischen 8 und 10 Jahren, die noch nie an Pocken erkrankt oder geimpftwordenwaren,anBord.Jede Woche bekamen zwei von ihnen den Impfstoff, der aus Pusteln der zuvor Geimpften entnommen worden war, in den Arm gespritzt. „Die Reise dauerte bis zum Frühling, und in der ganzen Zeit musste immer jemand diese Krankheit ausbrüten, den Punkt erreichen, an dem er die Pusteln ausbildete, sodass man den Eiter auf den nächsten Buben übertragen konnte“, erzählt Czech. Ziel war es, am Ende der Reise zumindest einen Buben zu haben, von dem man den aktiven Erreger übernehmen konnte.“
Der Medizinhistoriker weiter: „Diese Vorgangsweise würde man heute natürlich nicht mehr akzeptieren. Die Buben stammten aus einem Waisenhaus, und man hat ihnen das Blaue vom Himmel versprochen.“Betreut von der RektorindesFindelhauses,IsabelSandalla y Gómez, haben tatsächlich alle spanischen Waisen die Reise gut überstanden und wurden von mexikanischen Familien adoptiert. Auf der anschließenden Pazifiküberquerung nahmen dann 26 mexikanische Buben ihren Platz ein.
Als Balmis am 7. September 1806 nach Madrid zurückkehrte, hatten er und seine Mitstreiter wohl 500.000 Impfungen verabreicht und in der Folge Millionen von Menschenleben gerettet. Czech bilanziert: „Medizinisch war es eine Glanzleistung“. Die lange nachwirkte: Als der Mexikaner Carlos Canseco 1984 die weltweite Impfkampagne zur Ausrottung der Kinderlähmung startete, sagte er: „Balmis hat mich dazu inspiriert.“