Kurier (Samstag)

Mit Dr. Pozzi gegen alle, die selbstgefä­llig sind

Julian Barnes. „Der Mann im roten Rock“ist vieles, nur kein Roman

- PETER PISA

Dem amerikanis­chen Maler John Singer Sargent war Dr. Pozzi herzlich egal.

Ihm ging es um den roten Mantel. War es ein Morgenmant­el? Jedenfalls war der Mantel die künstleris­che Herausford­erung (Das Ölgemälde „Dr. Pozzi at Home“aus dem Jahr 1881 ist heute im Besitz des Hammer Museums in Los Angeles; unten auf dem Buchcover sieht man einen Teil davon.)

Hingegen: Julian Barnes – kürzlich wurde er 75 – braucht den Arzt Dr. Samuel Pozzi.

Grenzenlos

Ihn setzt er gegen die Dummheit ein.

Der frankophil­e Engländer Julian Barnes setzt „seinen“anglophile­n Franzosen jenen Engländern entgegen – nicht Briten! darauf legt er Wert! –, die selbstgefä­llig sind und sich für „dieses andere“nicht interessie­ren.

Bzw. der politische­n Elite, die den Brexit möglich gemacht haben.

Von Dr. Pozzi ist der Satz überliefer­t: Chauvinism­us ist ein Erscheinun­gsbild der Ignoranz.

Barnes war zuletzt großartig in „Der Lärm der Zeit“, als der Komponist Schostakow­itsch

auf seine Verhaftung durch Stalin wartete. Sein aktuelles Buch ist: a) ein Plädoyer für den Austausch, für grenzenlos­e Kunst;

b) ein Porträt des stets wissbegier­igen, fortschrit­tlichen, reichen, damals berühmten und selbstvers­tändlich in London seine Kleidung kaufenden Dr. Samuel Pozzi („Vater der Chirurgie in Paris“einerseits, anderersei­ts ein „Modearzt“, der mit dem Präsidente­n auf die Jagd ging);

c) ein Porträt der französisc­hen Belle Époque, „dekadent, hektisch, narzisstis­ch, neurotisch“(Julian Barnes).

Und blutig! In England waren Duelle um 1900 verboten, in Frankreich aber wurde emsig geschossen oder gefochten – da konnte schon eine Auseinande­rsetzung darüber reichen, ob Sarah Bernhardt sehr dünn oder nur dünn war, als sie Hamlet spielte.

„Der Mann im roten Rock“ist anscheinen­d alles – nur Roman ist das keiner.

Barnes bemüht sich, diese Überfülle an gut recherchie­rten, schön ineinander fließenden Informatio­nen mit Anekdoten anzureiche­rn. Auch gibt es zur Auflockeru­ng alte Fotografie­n in bester Qualität.

Schon beim Aufzählen der handelnden Personen werden Köpfe zu rauchen anfangen: Flaubert, Maupassant,

Huysmans, die Brüder Goncourt, Oscar Wilde, Marcel Proust ... als Wilde bei Proust eingeladen war, lief er vor dem Essen weg, nachdem er zu Prousts Eltern gemeint hatte: „Wie hässlich Ihr Haus ist!“

Pozzi war überall, er lud sich in der Welt mit Wissen auf – in Amerika studierte er u. a. Duschen in Spitälern, in Wien war er wegen der „Lustigen Witwe“etc.

Seine Karriere als Don Juan begann mit Sarah Bernhardt. Es wird auch (das ist Punkt d) viel um Sex gehen. Sogar sein Ende 1918 hatte damit zutun: Er konnte die Impotenz eines Patienten nicht beheben. Und?

Drei Pistolenku­geln.

 ??  ?? Mit „Flauberts Papagei“gelang Julian Barnes vor fast 40 Jahren der internatio­nale Durchbruch
Mit „Flauberts Papagei“gelang Julian Barnes vor fast 40 Jahren der internatio­nale Durchbruch
 ??  ?? Julian Barnes: „Der Mann im roten Rock“Übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheue­r & Witsch. 304 Seiten. 24,70 Euro
KURIER-Wertung: āāāāά
Julian Barnes: „Der Mann im roten Rock“Übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheue­r & Witsch. 304 Seiten. 24,70 Euro KURIER-Wertung: āāāāά
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