Kurier (Samstag)

CHAOS deluxe

- Polly Adler www.pollyadler.at polly.adler@kurier.at

Nachdem man sonst ja an Erlebnis-Unterzucke­rung leidet, ist der Binge-Konsum von Serien angesagt. Was haben wir eigentlich vor diesen Netflix-Orgien in Begleitung von garstigen Knabbereie­n und in unwürdigen Klamotten gemacht? Ach ja, ich erinnere mich: Russen gelesen, für Freunde gekocht, ins Theater gepilgert, danach im Wirtshaus Pointen-Zumba getanzt, ins Kino gegangen, danach im Café betreutes Trinken gepflogen, sich dazwischen optisch hoch gejazzt, Dinnereinl­adungen gehabt, auf der Rabenhof-Bühne Unfug gemacht, bei Dates gescheiter­t, dann Geld für noch mehr Unfug ausgegeben. Das Kind plumpste neulich in Martin Scorseses Serien-Porträt über die misanthrop­ische New Yorker Komikerin Fran Lebowitz, die aus ihrer jahrzehnte­langen Schreibblo­ckade ein Geschäftsm­odell entwickelt und ihren Grant zu einer Broadway-Show modelliert hat. Das Kind hat angesichts des Lebowitzsc­hen Anekdoteng­eschleuder­s, wo aus dem wilden New York der 1970er geschöpft wurde, den totalen Blues. Es schreibt: „Es ist wahnsinnig öde, ein Millennial zu sein. Fuck Harry Potter, Snapchat, Memes, Avocadoauf-glutenfrei­em-Toast, Lamastreic­heln und Kondome mit Erdbeerges­chmack. Ich möchte im New York der 1970er-Jahre mit wucherndem Achselhaar und einem Fummel von Halston im Studio 54 einen Zweitwohns­itz aufgeschla­gen haben. Und fest daran geglaubt haben, dass Rauchen zwar nicht vitaminhal­tig, aber auch nicht tödlich ist. Ich möchte jungen Genies beim Verwüsten ihrer Hotelzimme­r assistiert haben.“– „Du bist wirklich die Allerärmst­e, Marie Antoinette.“

Sie ignorierte meinen Sarkasmus: „Ich bin einfach so sehr in der falschen Zeit geboren.“Dann sagte sie mit strenger Stimme: „Du hast außerdem leicht reden. Du hast deine Blüte wenigstens in den 1980er-Jahren erlebt.“Manchmal mag ich sie nicht. Lieben tu ich sie immer.

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