Schatten der eigenen Geschichte
Kanada. Ein Land ist durch den Fund Tausender Kindergräber mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Wie das Leid Indigener – auch in den USA – nun aufgearbeitet werden muss, erklärt Historiker Manuel Menrath
In Kanada wurden in den vergangenen Wochen in der Nähe von ehemaligen Internaten für indigene Kinder Tausende anonyme Massengräber entdeckt. Sie sorgen seither für Entsetzen und das Aufreißen alter Wunden. Denn seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind mindestens 150.000 Kinder von Indigenen von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt worden, um in staatlich-kirchlichen Heimen an die weiße Mehrheitsgesellschaft angepasst zu werden. Viele von ihnen sind in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht worden.
Der Historiker Manuel Menrath von der Universität Luzern hat sich eingehend mit der Vergangenheit und Gegenwart indigener Völker in Kanada beschäftigt. In seinem Buch „Unter dem Nordlicht“kommen Indigene selbst zu Wort. Menrath hat mit über hundert Angehörigen der First Nations gesprochen, die ihm auch von ihrer Zeit in den „Residential Schools“erzählt haben, geprägt von (sexuellem) Missbrauch, Gewalt und Angst.
KURIER: Wie kam es zu den Gründungen der Internate, von denen wir nach der Entdeckung der Kindergräber wieder sprechen?
Manuel Menrath: Man hatte damals die sozialdarwinistische Sicht, dass die Indigenen aussterbende Völker sind, die man retten muss, indem man sie zivilisiert. Sie wurden in Reservate getrieben, wo sie assimiliert und christianisiert werden sollten. Durch den Indian Act von 1876 wurde gesetzlich festgelegt, dass man deren Kinder in Internaten oder Tagesschulen unterbringt, um sie zu erziehen, zu assimilieren. Dafür hat der kanadische Staat 139 solcher „Residential Schools“gegründet. Bis die letzte Schule 1996 schloss, wurden 150.000 Kinder in diese Einrichtungen geschickt.
Um auch die englische und französische Sprache, Lesen und Schreiben zu lernen?
Auch. Die indigenen Kinder durften ihre Sprache nicht mehr sprechen. Die Haare wurden abgeschnitten, sie wurden in westliche Kleider gezwängt. Man hat eigentlich Kopien von westlichen Menschen gemacht. Aber man wollte hier keine intellektuellen Eliten heranziehen, sondern man brauchte Bauern, Fabrikarbeiter, Dienstmädchen. Eine Unterschicht. Schon in den Schulen mussten die Kinder teils hart arbeiten.
Was hatten die Kirchen mit den Schulen zu tun?
Man brauchte Personal. Da boten sich die Missionare der anglikanischen, presbyterianischen, methodistischen und katholischen Kirche an. Gegründet, konzipiert, gesetzlich legitimiert und finanziert wurden sie aber vom kanadischen Staat. Die Geistlichen waren aber keine Pädagogen, viele waren für diese Arbeit nicht ausgebildet. Einige waren völlig überfordert. Krankheiten kamen, die Kinder starben haufenweise weg.
Also starben die Kinder, weil sie nicht ausreichend betreut wurden?
Ja, außerdem waren die Schulen völlig unterfinanziert – auch an Nahrungsmitteln wurde gespart. Die Kinder waren nicht ausreichend ernährt. Sie waren Wildfleisch, Fisch und frische Beeren gewohnt. Dort kriegten sie eine Grütze vorgesetzt, die ihr Magen nicht vertrug. Die
Kinder waren unterernährt und daher anfälliger für Viren und Bakterien.
Was weiß man über Missbrauch und Gewalt an den Schulen? Wurden Kinder auch von Aufsehern getötet?
Die Gewalt, die diesen Kindern angetan wurde, ist unermesslich. Das macht einen sprachlos. Die Kinder wurden sexuell, physisch und seelisch missbraucht. Doch sie konnten nicht in Worte fassen, was ihnen angetan wurde. Dieser sexuelle Missbrauch kam ja nie an die Öffentlichkeit. Außerdem wurden sie etwa geschlagen, wenn sie z. B. ihre Sprache benutzten. Es gibt auch Berichte
von einem elektrischen Stuhl, der eingesetzt wurde, um die Kinder, wenn sie sich etwa unerlaubterweise vom Schulgelände entfernt hatten, mit Stromstößen zu malträtieren. Manche starben dabei, oder wenn andere Strafen eskalierten. Manche erfroren aber etwa auch auf der Flucht.
Was machen diese Funde mit dem Land? Dienen sie der Aufarbeitung? Oder wurden sie durch die Aufarbeitung überhaupt erst möglich?
Beides. Die Indigenen wussten ja die ganze Zeit, dass es diese Gräber irgendwo geben muss. Es gibt 80.000 Überlebende aus diesen Schulen, die sich heute noch erinnern. Sie fordern seit Jahrzehnten Aufarbeitung. Aber vom Staat kam lange zu wenig. Dann haben einige „First Nations“die Sache selbst in die Hand genommen, Gelder gesammelt und zu graben begonnen. Als die ersten 215 Gräber in Kamloops gefunden wurden, hat das eine Schockwelle durch Kanada losgelöst. Die Regierungen der Provinzen, Premier Justin Trudeau wurden alarmiert und Gelder wurden freigesetzt. Das alles wird jetzt auch in die USA überschwappen. Das gibt jetzt eine riesige Aufarbeitung.
Was macht das mit den Indigenen, die ja teils schwer traumatisiert sind?
Das öffnet alte Wunden. Viele Überlebende müssen jetzt das Trauma noch mal erleben. Aber es hilft ihnen auch beim Heilungsprozess. Sie haben jetzt einen Ort zum Trauern. Und das Ganze zeigt uns auch, dass das alles nicht „historisch“ist. Das ist keine Geschichte, das ist Gegenwart.
Wie geht es den Indigenen in Kanada heute?
Es gibt Orte, wo Indigene ohne sauberes, fließendes Wasser leben. Im Reservat Attawapiskat mit 2.000 Einwohnern haben 2016 100 Kinder versucht, sich das Leben zu nehmen. Drogen- und Alkoholsucht – das ist das andere Kanada. Denn nach Auflösen der „Residential Schools“ließ man die Überlebenden alleine. Sie haben nie gelernt zu lieben, wurden dazu erzogen, ihre Eltern, ihre Kultur zu hassen. Sie bekamen eigene Kinder, ertränkten ihren Schmerz in Alkohol und Drogen – können die Kinder nicht mehr erziehen. Dann kamen in den 1960ern Sozialarbeiter des kanadischen Staates und nahmen rund 20.000 Familien die Kinder weg, brachten sie zu Pflegefamilien oder gaben sie zur Adoption in die USA, nach Australien und Neuseeland frei.