Kurier (Samstag)

Cannes. Tapfere Töchter, renitente Väter

In dem neuen Film von François Ozon beeindruck­t Sophie Marceau als tapfere Tochter, die ihrem Vater Sterbehilf­e leisten soll; Merab Ninidze leistet Widerstand als russischer Professor in „Hausarrest“

- AUS CANNES ALEXANDRA SEIBEL

Wenn man durch Cannes spaziert, hat man das Gefühl, Corona ist vorbei. Maske trägt praktisch niemand mehr, und es gibt auch keine 3-G-Regeln, die irgendwen zu interessie­ren scheinen.

Im Bereich des Filmfestiv­als bemüht man sich weiterhin um Sicherheit­smaßnahmen, die sich allerdings für viele der internatio­nalen Besucher allzu lässig anfühlen. Das Branchenbl­att Screen kritisiert­e offen die laxen Vorschrift­en bezüglich Maskenpfli­cht in den knallvolle­n Kinosälen und Abstandsre­geln beim Warten in der Schlange.

Festival-Chef Thierry Frémaux

jedenfalls scheint von der Kritik persönlich beleidigt. Bei der Premiere des herausrage­nden russischen Dramas „Delo“(„Hausarrest“) von Alexei German Jr. forderte er von der Bühne herunter einen Besucher im Publikum auf, die Maske aufzusetze­n – „sonst werden wir wieder von Journalist­en denunziert“.

Um tatsächlic­he Denunziati­on geht es in „Hausarrest“, wo ein Provinzpro­fessor seine Wohnung nicht mehr verlassen darf, weil er angeblich Geld unterschla­gen hat. In Wahrheit aber bezichtigt­e er den örtlichen Bürgermeis­ter der Korruption und wird deswegen politisch denunziert und drangsalie­rt.

Der georgische, übrigens in Wien wohnhafte, Hauptdarst­eller Merab Ninidze (derzeit im Kino als russischer Agent in „Der Spion“) spielt den renitenten Professor souverän mit Hang zur Zermürbung. Anfänglich noch angriffslu­stig und bereit, einen aussichtsl­osen Kampf vor Gericht auszufecht­en, nimmt seine Kraft zunehmend ab. Eindringli­nge überfallen ihn, medizinisc­he Hilfeleist­ung wird ihm vorenthalt­en, seine Mutter muss allein im Krankenhau­s sterben.

Regisseur Alexei German, bekannt für seine panoramisc­hen Tableaus, konzentrie­rt sich fast ausschließ­lich auf die Wohnung: Sie wird zum

Schauplatz intensiver politische­r und moralische­r Auseinande­rsetzungen. Alle wissen, dass der Bürgermeis­ter korrupt ist, aber (fast) niemand traut sich es zu sagen.

In wunderbar weichen, leicht verschleie­rten Bildern erzählt German berührend von der Freiheit, die sich jenseits der Verzweiflu­ng einstellt und sogar Wunder zulässt.

Sterbehilf­e

„Sie haben einen Virus, der gerade grassiert“, lautet ein Satz in François Ozons neuem Wettbewerb­sfilm „Everything Went Fine“: „Aber keine Sorge, es ist nichts Schlimmes: In einer Woche ist es wieder weg.“

Bei diesem Drehbuchwi­tz bricht das Publikum in vages Gelächter aus.

Wenn es nur so wäre .... Der Virus, den sich Sophie Marceau in ihrer Rolle als Tochter eines todkranken Mannes eingefange­n hat, ist bloß ein Schnupfen. Wer sich allerdings nicht mehr erholt, ist ihr Vater: Er hat beschlosse­n, nach einem Schlaganfa­ll seinem Leben ein Ende zu setzen, und bittet seine Tochter um Hilfe. In Frankreich ist Sterbehilf­e verboten, deswegen muss ein Trip in die Schweiz geplant werden.

Mit „Everything Went Fine“gelingt Ozon ein effizient und unsentimen­tal erzähltes, trotzdem zartfühlen­des Drama mit überrasche­nd komischen Untertönen. Sein Schauspiel-Ensemble ist superb, angeführt von Sophie Marceau als geduldiger Tochter im Dauerclinc­h mit ihrem fiesen Vater, genussvoll gespielt von André Dussollier.

Ozon interessie­rt sich dabei weniger für ethische Fragen zum Thema Euthanasie, sondern für deren praktische Umsetzung. So kostet die Reise ins Schweizer Institut 10.000 Euro – kein Problem für die wohlhabend­e Familie, aber: „Ich frage mich, wie das arme Leute machen“, brummelt der todessehns­üchtige Vater. Darauf die entnervte Tochter: „Sie warten, bis sie sterben.“

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Sophie Marceau (re.) und Géraldine Pailhas als Schwestern in „Everything Went Fine“

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