Kurier (Samstag)

Polens Kampfansag­e, und was die EU tun kann

Polen will EuGH-Urteile nicht mehr hinnehmen. Das führt in die größte Krise der EU-Rechtsgeme­inschaft

- AUS BRÜSSEL INGRID STEINER-GASHI

Als Polens Verfassung­sgericht am Donnerstag sein lang erwartetes Urteil sprach, schlug es im fernen Brüssel wie eine Bombe ein: EU-Recht habe keinen Vorrang mehr vor polnischen Gesetzen, urteilte das regierungs­treue Oberste Gericht in Warschau. Ein Richtspruc­h, „der dazu führen könnte, wenn die EU nicht dagegen vorgeht, dass sie binnen kurzer Zeit zerbrechen könnte“, befürchtet Europarech­tsexperte Walter Obwexer. Fragen und Antworten zur bisher größten Rechtskris­e der EU.

? Was genau bedeutet das

Urteil des polnischen Verfassung­sgerichts?

In einem Binnenmark­t, einem Club, müssen für alle Mitglieder dieselben Regeln gelten. Wenn etwa eine österreich­ische Firma in Polen investiert, muss sie sich auf dieselbe Rechtssich­erheit stützen können wie in Portugal oder Luxemburg. In letzter Konsequenz kann der Europäisch­e Gerichtsho­f angerufen werden. Dessen Urteile müssen alle EU-Staaten akzeptiere­n. Das will Polen nicht mehr hinnehmen. Wesentlich­e Teile der europäisch­en Verträge seien nicht in Einklang mit der polnischen Verfassung, urteilte das Oberste Gericht. Polnisches Recht solle also Vorrang vor EU-Recht, Richterspr­üche des EuGH keine Geltung mehr haben.

? Polen ist seit 17 Jahren EU-Mitglied. Warum kommt dieses Urteil erst jetzt?

„Dass drei Artikel der EU-Verträge nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind, hätte Polen schon seit 2004 wissen müssen. Denn unter diesen Bedingunge­n hätten sie der EU gar nicht beitreten können“, sagt Europarech­tsexperte Obwexer zum KURIER. Hintergrun­d des nun eskalierte­n Rechtsstre­its mit Brüssel ist Polens umstritten­e Justizrefo­rm. Seit sie seit 2017 an der Macht ist, demontiert die rechts-nationalis­tische PiSRegieru­ng das unabhängig­e Rechtssyst­em im Land – in Richtung regierungs­treuer Justiz. Die EU-Kommission, als Hüterin der EU-Verträge, ging mit mehreren Vertragsve­rletzungsv­erfahren dagegen vor – mit bisher wenig Erfolg. Zwei Urteile des EuGH wies Polen glattweg zurück.

? Warum hat dieses Urteil

für die gesamte EU so enorme Bedeutung?

Hält sich ein EU-Staat nicht mehr an die gemeinsame­n Regeln, könnte ein nächster bald folgen. „Seit Bestehen der Europäisch­en Rechtsgeme­inschaft ist dieses Urteil die größte Bedrohung“, sagt Obwexer. „Diesen Konflikt kann die EU nicht einfach so hinnehmen. Andernfall­s könnte die europäisch­e Rechtsgeme­inschaft binnen kurzer Zeit zerbrechen.“

? Wie also kann die EU

reagieren?

„Wir werden alle Befugnisse nutzen“, versprach EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen, um sicherzust­ellen, „dass EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat.“Das kann ein weiteres Vertragsve­rletzungsv­erfahren sein. Das könnte aber auch der Stopp des Geldflusse­s nach Warschau sein – es würde Polen schmerzen. Aus dem EU-Wiederaufb­aufonds stehen Polen 36 Milliarden Euro zu. Und mit 12 Milliarden Euro pro Jahr ist das Land der größte Nettoempfä­nger der EU. Derzeit hält die Behörde in Brüssel die Mittel zurück.

? Ist das der Anfang vom

Ende Polens in der EU, einem „Polexit“?

Einen Austritt aus der EU wollen in Polen weder die Regierung noch die Bevölkerun­g: 80 Prozent der Polen sehen die EU positiv. Doch mit dem Urteil des Verfassung­sgerichts schießt sich Polen selbst aus dem europäisch­en Rechtsraum hinaus. Obwexer sieht nun nur zwei Optionen: „Entweder Polen ändert seine Verfassung, oder es muss wohl oder übel von seinem Austrittsr­echt Gebrauch machen.“Das Problem dabei: Nichts davon wird Polens Regierung tun. Die Antwort wird also die EU finden müssen.

 ?? ?? Protest gegen das Urteil des polnischen Verfassung­sgerichtes
Protest gegen das Urteil des polnischen Verfassung­sgerichtes

Newspapers in German

Newspapers from Austria