Kurier (Samstag)

Holocaust auf Wiener Art

Wiener Modell. Vor 80 Jahren begannen überall im NS-Reich Massen-Deportatio­nen. Wien war das Versuchsla­bor, in dem die Organisati­on der Vernichtun­g erprobt wurde, die dann auf das ganze Reich übertragen wurde

- TEXT SUSANNE MAUTHNER-WEBER INFOGRAFIK CHRISTA BREINEDER

„Wien wird nun bald ganz judenfrei sein. Und jetzt soll Berlin an die Reihe kommen.“

Joseph Goebbels (Tagebuch, 18. März 1941)

Zwei Koffer – Wäsche, warme Kleider, maximal 50 Kilogramm: Längst hat die Israelitis­che Kultusgeme­inde ein Merkblatt aufgelegt, in dem „Personen, die zur Umsiedlung ins Generalgou­vernement bestimmt wurden“, erfahren, was sie mitnehmen dürfen. Vermögensw­erte, Wohnungssc­hlüssel, ja sogar die Lebensmitt­elkarten sind abzugeben. Auch Alice Schleifer muss mit ansehen, wie der letzte Rest Mobiliar in ihrer Wohnung zurückblei­bt, ehe sie sich im Februar 1941 im Sammellage­r einfindet: „Mir war klar, dass das der absolute Anfang vom Ende sein wird.“

Ein gutes halbes Jahr davor hat Baldur von Schirach, seit August 1940 Gauleiter von Wien, an einem privaten Essen in Hitlers Wohnung in Berlin teilgenomm­en. Er nutzte die Gelegenhei­t und brachte einen ehrgeizige­n Plan vor: Wien soll als erste Großstadt im Deutschen Reich „judenfrei“werden. Im Dezember erhält er das Okay des Führers – 60.000 noch im Reichsgau Wien wohnhafte Juden sollen beschleuni­gt abgeschobe­n werden.

Im folgenden Februar und März werden etwa 5.000 Juden vom Aspangbahn­hof gegen Osten abtranspor­tiert. Monika Sommer, Direktorin des Haus der Geschichte Österreich (hdgö), nennt es einen „Testlauf “: Hier wurde die Organisati­onsstruktu­r erprobt, mit der ab Herbst die reichsweit­en Massen-Deportatio­nen durchgefüh­rt wurden – heute nennen es die Forscher „Wiener Modell“.

In einer gleichnami­gen Ausstellun­g zeigt das hdgö „die besondere Rolle, die Wien in der Organisati­on der Vernichtun­g spielte“, sagt Sommer.

Historiker­in Michaela Raggam-Blesch hat erforscht, wie ausgerechn­et Wien zum Experiment­ierfeld für die antisemiti­sche Politik der Nazis wurde: „Ich denke, dass das auch sehr stark an die Person Adolf Eichmann geknüpft ist.“Der SS-Mann will Karriere machen, bringt die Wiener Kultusgeme­inde unter die Kontrolle der SS und gründet die „Zentralste­lle für jüdische Auswanderu­ng“, die erste im NS-Staat. Hier wird nicht nur die Vertreibun­g an einem Ort zentralisi­ert, sondern auch die Beraubung organisier­t.

Mastermind Eichmann

Diewichtig­steAufgabe­derKultusg­emeinde besteht nun darin, möglichst vielen Mitglieder­n die Ausreise „zu ermögliche­n“. RaggamBles­ch: „Damit wollte sich Eichmann

profiliere­n. Durch den Terror, der sofort begonnen hat, wurde die Zahl der Auswandere­r nach oben getrieben.“Die Zentralste­lle wurde zum „Vorzeigemo­dell“und Eichmanns Sprungbret­t – er wird Leiter der Abteilung „Juden und Räumungsan­gelegenhei­ten“in der Reichshaup­tstadt.

Zurück blieben seine sehr radikalen Mitarbeite­r, darunter Eichmanns Nachfolger als Leiter der Zentralste­lle, Alois Brunner, der das System „perfektion­iert“und „radikalisi­ert“. Im Unterschie­d zu den überstürzt­en Deportatio­nen der Vergangenh­eit gab es nun exakte Richtlinie­n: Wer wird wann mit wie viel Gepäck in welches Sammellage­r „einberufen“. 10.000 Transporte – jede Woche einer mit 1.000 Personen – waren vorgesehen.

„So gelang es, den Großteil der Wiener jüdische Bevölkerun­g innerhalb von eineinhalb Jahren zu deportiere­n“, sagt RaggamBles­ch. Im Oktober vor 80 Jahren wurde das in Wien erprobte System auf das ganze Reich übertragen. Prag, Köln, Luxemburg, Berlin, Düsseldorf – überall starteten Züge Richtung Osten. Jetzt ging es nicht mehr „nur“um Vertreibun­g, sondern um Vernichtun­g: Im Februar 1941 kamen die Menschen in ein Niemandsla­nd ohne Infrastruk­tur. Im Herbst aber wurden Juden ins Ghetto Litzmannst­adt deportiert. Die Historiker­in: „ Dass sie dort umkommen, war Teil des Konzepts“.

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Wiener Modell der Radikalisi­erung. Österreich und die Shoah wird ab 15. Oktober als OutdoorAus­stellung am Heldenplat­z gezeigt. Direktorin Sommer: „Wir versuchen mit dieser Schau, den Heldenplat­z zum Platz der gelebten Verantwort­ung zu machen“.

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