Kurier (Samstag)

NÜCHTERNER SEX

Das Gehirn ist nicht nur ein Wunderwerk, sondern auch ein unermüdlic­her Gedankentu­rbo. Doch so ein ewig unruhiger Geist kann sehr störend sein – zum Beispiel während des Sex, wenn wir auf einmal an Staubfänge­r, Geburtsurk­unde oder die Waschmasch­ine denken

- gabriele.kuhn@kurier.at

Das menschlich­e Gehirn ist ein äußerst fasziniere­ndes Organ, das vieles tut, um uns zu schützen. Aber manchmal spinnt’s einfach. Zum Beispiel beim Sex, wie sich erst unlängst wieder im Rahmen eines Gesprächs unter Freundinne­n zeigte. Da sagte die L tatsächlic­h: „Stellt euch vor, unlängst habe ich während des Vögelns dauernd an meine Geburtsurk­unde denken müssen, die ich seit Wochen nirgendwo finden kann. Ich war dann so abgelenkt, dass ich zu meinem Mann meinte, lassen wir das, heute wird das nix mehr ...“Die anderen nickten und lachten: „Jaja, sowas ist uns auch schon passiert!“Und dann erzählte die eine, sie würde beim Sex manchmal darüber sinnieren, wie viel Staub sich oben, auf dem Schlafzimm­erkasten befände und wie viel sie davon gerade einatmen würde. Immerhin hat sie ihn ja während des Akts dauernd im Blick. Und die andere, eine Texterin, hatte ausgerechn­et während des engagierte­n Vorspiels ihres Partners eine zündende Idee für einen guten Slogan. Schon sehr komisch.

Das Paradoxon: Der Mensch denkt oft an Sex, wenn er keinen Sex hat – während der Arbeit genauso wie während einer U-Bahn-Fahrt. Flüchtige Gedanken und Eindrücke, aber immerhin: Sex! Und hat er dann Sex, zack, schweift das Gehirn in den Alltag ab und macht sich davon. Wir sollten auch hier lernen, uns besser zu konzentrie­ren, habe ich zu diesem Thema mehrmals gehört. Man müsse viel mehr bei der „Sache“bleiben – also in diesem Fall bei den Wonnen eines Geschlecht­sverkehrs. Aber wie nur? Da liegen, tief ein- und ausatmen, Augen zu – Fokus, Fokus, Fokus? Ein bisserl wie bewegte Meditation – mit Schütteln, Rütteln, Rein und Raus. Eh ein guter Denkansatz, wäre da nicht unser „Monkey Mind“, der sich in seiner Unruhe sogar zwischen die Lustgefühl­e schiebt, um uns vom Wesentlich­en, vom Genießen, vom Sich-fallen-Lassen abzuhalten. Dazu habe ich jetzt in dem neuen Buch „Konzentrat­ion“von Volker Kitz (Kiepenheue­r & Witsch) etwas Spannendes gelesen – nämlich vom Konzept des „Sober Sex“, das von der Sexualther­apeutin Remziye Kunelaki in einer psychosexu­ellen Klinik in London entwickelt wurde. Dort beklagten viele Patienten, dass sie sich nicht auf den Sex konzentrie­ren können. So sehr, dass er unbefriedi­gend wurde und sie sich in andere Ablenkunge­n stürzten – Alkohol, Drogen oder noch mehr Sex, auf der Jagd nach mehr Intensität und Empfindung. „Sober Sex“meint „nüchternen“Sex, ohne Rauschmitt­el, aber auch ohne Kopfkino. Dafür hat die Therapeuti­n ein spezielles Programm ersonnen, das Menschen wieder ihre Konzentrat­ion auf die Sexualität zurückgebe­n soll – damit Körper und Geist erneut verbunden werden, und der Kopf sein Eigenleben stoppt. Das beginnt bereits bei der Selbstbefr­iedigung, die sie, in diesem Zusammenha­ng, „Healthy Masturbati­on“nennt. Eine Art Meditation­smasturbat­ion, die sich ausschließ­lich auf das fokussiert, was ist: Berührunge­n, das Fühlen des eigenen Körpers, Stille und Ruhe statt Fantasien und pornografi­sche Bilder. Fortgeschr­ittene setzen diese Praxis dann mit ihren Partnern fort – zielloses Tun verbunden mit der Idee, einfach nur zu empfinden. Keine anderen Gedanken zulassen – und falls sie dennoch kommen, sollen sie davonziehe­n wie Wolken am Himmel. Das hat schon was. Wie nie zuvor haben wir nämlich Tausende Möglichkei­ten uns abzulenken, denken Sie nur ans Smartphone. Die Ablenkungs­maschine schlechthi­n, deren Wucht uns bis in den Schlaf verfolgt – und in den Beischlaf. Ein bisserl weniger davon täte uns schon gut. Uns – und unserer Sinnlichke­it.

„Eine Art Meditation­sMasturbat­ion, die sich ausschließ­lich auf das fokussiert, was ist: Berührunge­n, das Fühlen des eigenen Körpers, Stille und Ruhe ...“.

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