Kurier (Samstag)

Was kann virtuelles Offshoring?

Die digitale Auslagerun­g von Dienstleis­tungen hat Grenzen Gastkommen­tar

- Arbeiten von zu Hause hat sich flächendec­kend etabliert. Auch grenzübers­chreitend?

Während des ersten Lockdowns haben bis zu 40 % der Arbeitnehm­er in der EU regelmäßig im Homeoffice gearbeitet. Mittlerwei­le gehört das Angebot von „flexiblem Arbeiten“, „Homeoffice“oder „Remote Work“zum Selbstvers­tändnis. Unternehme­n spielen zunehmend mit dem Gedanken einer – zumindest teilweise – globalisie­rten, virtuellen Belegschaf­t.

Dieser Paradigmen­wechsel eröffnet eine neue Welt: neue Talente und günstigere Arbeitskrä­fte aus anderen Ländern einzustell­en. Virtuelles Offshoring gewinnt an Bedeutung. Während sich für die Industrien­ationen erhebliche Einsparung­spotenzial­e ergeben, könnten die Schwellenl­änder neue Wachstumsp­otenziale erschließe­n.

So wäre es für deutsche Unternehme­n möglich, 6 Prozent ihrer Arbeitskos­ten einzuspare­n. In UK sind es sogar 9 Prozent. In Volkswirts­chaften mit hohem Einkommen gibt es schätzungs­weise knapp 160 Millionen remotefähi­ge Arbeitsplä­tze. Im Gegensatz dazu wird in den Volkswirts­chaften mit niedrigem oder mittlerem Einkommen die Zahl mit 330 Millionen etwa doppelt eingeschät­zt.

Wie groß das Potenzial des „virtuellen Offshoring“tatsächlic­h ist, hängt von unterschie­dlichen Faktoren ab: Arbeitskos­ten, Infrastruk­tur und die Anzahl potenziell­er Telearbeit­er. Polen schneidet neben den Hotspots Indien und Indonesien besonders gut ab. Ebenso sind China und Russland theoretisc­h ideale Ziele. Wachsende geopolitis­che Spannungen und Cybersiche­rheitsprob­leme stellen allerdings ein deutliches Hindernis dar. Nicht alle remotefähi­gen Arbeitsplä­tze können tatsächlic­h verlagert werden. Viele Aufgaben erfordern Präsenz vor Ort, persönlich­en Kontakt und ein gutes Verständni­s der Kultur.

Die Schattense­iten: Eine Verlagerun­g der Arbeit in dieser Größenordn­ung könnte destabilis­ierende gesellso hoch schaftlich­e Auswirkung­en haben. Es gibt einen gut dokumentie­rten Zusammenha­ng zwischen der De-Industrial­isierung und dem Aufstieg von Anti-Establishm­ent-Politikern. Dabei führte das physische Offshoring in der Fertigung zu einer Einkommens­stagnation bei weniger qualifizie­rten Arbeitnehm­ern, was sie in der Folge für eine Anti-Globalisie­rungsrheto­rik empfänglic­h machte. Bei der virtuellen Verlagerun­g von Arbeitsplä­tzen besteht die Gefahr, eines ähnlichen Musters.

In der Folge würden die Risiken für eine politische Polarisier­ung und soziale Unruhen steigen. Anderersei­ts besteht angesichts des Facharbeit­skräfteman­gels, die Möglichkei­t auf Arbeitskrä­fte innerhalb eines weiteren Radius zurückgrei­fen zu können. Es liegt an uns allen durch nachhaltig­es und langfristi­ges Handeln das Fundament für ein friedliche­s und ausgewogen­es Zusammenle­ben auch in Zukunft zu ermögliche­n und eine Balance zwischen „onsite“und „offsite“zu finden.

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Dagmar Koch ist Geschäftsf­ührerin von des Kreditvers­icherers Coface Österreich.

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