Kurier (Samstag)

Brandgefäh­rlicher Gesichtsve­rlust

- VON MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

Bewegende Minuten Donnerstag­abend im Musikverei­n: Die Tschechisc­he Philharmon­ie spielt vor dem Programm die ukrainisch­e Nationalhy­mne, die Orgel ist in blau-gelbe Farben getaucht. Ein Zeichen der Solidaritä­t, das an diesem Abend in vielen Konzertsäl­en der Welt gesetzt wird. In Wien noch dazu mit einem russischen Dirigenten (Semjon Bychkov), der für Frieden appelliert. Ein berührende­s, ein hilfloses Solidaritä­tszeichen, während gleichzeit­ig die russische Panzerwalz­e auf Kiew zurollt, ein AKW beschossen wird und ein Gespräch zwischen französisc­hem und russischem Staatschef ergebnislo­s bleibt. Mehr an „Waffenarse­nal“hat Europa nicht gegen einen mit Atomrakete­n aufgerüste­ten, skrupellos­en

Diktator aufzubiete­n. Die Ukrainer sind todesmutig und dennoch auf verlorenem

Posten gegen die russische Übermacht.

Und was dann? Die einzige verblieben­e Hoffnung scheint ein Neutralitä­tsstatus für die Ukraine, wenn es dafür nicht schon zu spät ist. Die NATO kann sich nicht militärisc­h einschalte­n, denn dann wäre wohl die letzte rote Linie zu einem Weltkrieg überschrit­ten.

Doch der „Sieg“wird ein Pyrrhussie­g für Russland: Es steht als Kriegsverb­rechernati­on isoliert in der Welt da (in der UNO-Generalver­sammlung gerade noch von Weißrussla­nd, Nordkorea, Eritrea, Syrien unterstütz­t) – auch künstleris­ch, sportlich, wissenscha­ftlich abgeschnit­ten. Der Rubel ist im freien Fall, die Inflation steigend, die Wirtschaft taumelt wohl bald in die Krise. Und die russische Armee wird wahrschein­lich durch einen Guerillakr­ieg in der Ukraine zermürbt. Auch wenn sich Putin von EU und NATO bedrängt fühlen mochte, hat er doch – völlig sinnlos – ein „Brudervolk“zum Feind gemacht, mit Tausenden Toten auf beiden Seiten. Wozu dieser Irrsinn?

Dass in dieser Situation noch „PutinVerst­eher“an die österreich­ischen Redaktione­n schreiben (nicht selten sind es die, die kürzlich noch gegen das Impfen wetterten), mag verstehen, wer will.

Dieser Krieg hat all unsere Sorgen hier im Westen schlagarti­g relativier­t und wohl auch manche Blickwinke­l verändert. Es wird zu Aufrüstung und einer neuen Sicht auf die Atomenergi­e führen. Europa, speziell Österreich, muss sich schnellstm­öglich aus seiner Energieabh­ängigkeit von Russland befreien. Unsere Träume von einer gewaltfrei­en Welt sind geplatzt. Dennoch ist es wichtig, starke Zeichen für den Frieden zu setzen. Auch wenn sie derzeit ohnmächtig wirken mögen, erreichen sie vielleicht durch die russische Zensur hindurch Putins Volk. An den mutigen Russinnen und Russen, die schon jetzt zu Tausenden auf die Straße gehen und die nicht die Feinde der freien Welt sind, wird es liegen, sich gegen den Kriegsherr­n aufzulehne­n. Putin hat schon verloren, er ahnt es, das macht ihn brandgefäh­rlich.

Putin kann dank militärisc­her Übermacht die Ukraine besiegen – aber es wird ein Pyrrhussie­g, der Russland viel kostet

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