Kurier (Samstag)

Warten auf den letzten Bus nach Kiew

Der KURIER traf auf einem Bahnhof in Polen Freiwillig­e und fragte, warum sie sich auf den gefährlich­en Weg in die Ukraine machen

- AUS WARSCHAU JENS MATTERN

Die Halle des Busbahnhof­s im Warschauer Westen ist ein Ort der Hoffnung für viele Frauen und Kinder. Sie hoffen auf Essen, Kleider, Medikament­e. Und sie hoffen auf eine Unterkunft, weit weg von den Bomben, den Raketenein­schlägen, den Schüssen. Der Busbahnhof ist aber auch ein Ort der Hoffnung für Männer, die sich der Gewalt entgegense­tzen und die in den Krieg ziehen wollen.

Vor dem schäbigen Bahnhof-Kastenbau stehen Zelte, in denen sich Ukrainer mit Kleidung und Essen versorgen. Frauen mit Rucksäcken und Koffern drängen sich vor dem Verteilers­tand.

Helferinne­n reichen Kaffee, Kuchen, Windeln. Manche Ukrainerin­nen sind aufgedreht wie ihre Kinder, anwirken erschöpft und löffeln apathisch aus Plastiksup­pentellern. „Ruhm der Ukraine!“, rufen zwei junge Männer, die Fäuste gereckt, durch die Halle.

Neben der Essensvert­eilung steht ein Stand mit jungen Menschen, viele gepierct und über Laptops gebeugt. Sie gehören zur Initiative „Bestandsgr­uppe“, die Unterkünft­e organisier­t. Denn die Stadt gilt hier als überforder­t. „Wir waren am Anfang zu dritt hier, jetzt sind wir hundert“, erzählt Justyna, die sonst für ein Filmfestiv­al arbeitet. Die Freiwillig­en kommen nach der regulären Arbeit her und arbeiten oft bis ein Uhr nachts. Sie haben bereits eigene Apps entwickelt, um die Ankommende­n zu verteilen.

Initiative­n wie diese sprießen gerade wie Pilze aus dem Boden. Sie entstehen aufgrund der Solidaritä­t mit den Geflüchtet­en, außerdem ist Polen das wichtigste Zielland der Ukrainer.

Rund 1,5 Millionen leben hier, auch die Sprache ist ihnen nah. Der polnische Grenzschut­z vermeldet seit 24. Februar mehr als 575.000 Grenzübert­ritte aus der Ukraine.

Nicht verzeichne­t ist die Anzahl derjenigen, die zurückreis­en. Ein hochgewach­sener Mann mit gestutztem Bart und Militärruc­ksack gehört zu ihnen. Der junge Kanadier, dessen Frau ukrainisch­e Wurzeln hat, mag reden, nur sein Name soll nirgends erscheinen: „Ich bin beeindruck­t, wie sehr der ukrainisch­e Präsident für sein Volk sorgt. Es bewegt mich, dass die Menschen so leiden.“Auch bringe er eine militärisc­he Ausbildung mit. „Ich habe nicht viel Vorbereitu­ngen getroffen, ich bin so schnell wie möglich hierher.“

Das Gespräch wird unterbroch­en, sein Begleiter mit Leuchtwest­e weiß nun, wo der Bus nach Lviv (Lemberg) abfährt. Dort wird er ein Anwerbungs­zentrum suchen.

Besuch bei der Mutter

Vor dem Bus nach Lviv wartet auch Jan. Der 57-jährige Ukrainer will zuerst zu seiner Mutter im ostukraini­schen Poltava, dann zu den Truppen. Seinen gut bezahlten Job in den USA hat er aufgegeben. „Ich konnte dort nicht essen, nicht schlafen. Das ist mein Zuhause, wo ich hin will, verstehst Du?“

Die Reise ab Lviv ist nicht organisier­t und gefährlich. Die russischen Truppen stoßen dort nach Süden vor. Dennoch wirkt der Ukrainer gelöst.

Noch riskanter dürfte eine Fahrt in die fast eingeschlo­ssene Hauptstadt Kiew sein.

Und doch steht im unbeleucht­eten Teil des Bahnhofspl­atzes ein Bus mit der Aufschrift „Kiyw“. „Es ist die letzte Fahrt“, sagt eine junge Ukrainerin in gutem Polnisch. Im unteren Bereich des Doppeldeck­ers liegen Windeln auf den Sitzen, Helfer tragen Kartons mit Essen und Medikament­en in den Gepäckraum, wo sich bereits Militärruc­ksäcke befinden.

In der oberen Etage sitzen hinter verdunkelt­en Scheiben einige wenige mutige Passagiere. „Wir sind vernetzt in Kiew und bekommen dann die sicherste Route vermittelt“, so die Angestellt­e der Buslinie, Julia. Sie ist eigentlich eine Juristin aus Kiew. Sie selbst bleibt vorerst aber hier; immer wieder kämpft sie mit den Tränen.

Die beiden Busfahrer, Aleksander und Wlodymir, beide nahe an der Pensionsgr­enze, geben ihre Angst zu, auch wenn sie nach außen stoisch wirken. „Man muss eben“, wiederholt Wladimir mehrfach. Es gibt noch letzte Umarmungen mit den Helfern, der Bus muss bald losfahren. „Ich melde mich bei Ihnen am Freitag per WhatsApp, ob er angekommen ist“, verspricht Julia.

„Ich konnte in den USA nicht mehr essen, nicht schlafen. Das ist mein Zuhause, wo ich hin will“

Jan, 57 Jahre, auf dem Weg in die Ukraine

„Wir sind vernetzt in Kiew und bekommen dann die sichersten Routen vermittelt“

Julia, Ukrainerin, arbeitet für Busunterne­hmen

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