Einigkeit mit Rissen
EU-Gipfel. Beim Treffen in Versailles gab es warme Worte für die Ukraine, doch zu raschen Beitrittsverhandlungen und einem Importstopp für russische Energielieferungen konnten sich die Staats- und Regierungschefs nicht durchringen
Mit bemerkenswerter Einheit hat die europäische Staatengemeinschaft bisher auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert – von raschen Waffenlieferungen bis zum Beschluss scharfer Sanktionen. Beim zweitägigen informellen Gipfel der EUStaatsund Regierungschefs in Versailles, der gestern endete, wurden trotzdem Risse in der gemeinsamen Front sichtbar, auch wenn Emmanuel Macron – der turnusmäßig die EU-Ratspräsidentschaft innehat – in einer abschließenden Pressekonferenz diesem Eindruck entgegentreten wollte. Im historisch so bedeutsamen Schloss von Versailles, „wo wir schon
„In Versailles, wo wir schon einmal den Frieden verloren haben, hat sich die EU einig gezeigt“
Emmanuel Macron Frankreichs Präsident
einmal den Frieden verloren haben“, habe sich die EU geeint gezeigt und manche alte Dogmen über Bord geworfen, lobte Frankreichs Staatschef.
Zu den Fragen, die die Gemeinschaft trotz dieser warmen Worte spaltete, gehörte unter anderem jene nach einem raschen Importstopp für russische Energielieferungen. Während osteuropäische Staaten wie Polen,
Lettland und Litauen dies forderten, sprachen sich vor allem Länder wie Deutschland, Österreich und Ungarn, die besonders abhängig von Gas, Öl und Kohle aus Russland sind, dagegen aus. Laut Schätzungen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel belaufen sich die täglichen Ausgaben der EU-Staaten für russisches Gas auf 380 Millionen Euro, für Öl auf 362 Millionen Euro.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz argumentierte, man wolle Moskau davon überzeugen, den Krieg zu beenden und die Folgen in Europa möglichst gering halten. Der österreichische Kanzler Karl Nehammer unterstützte diese Haltung. „Österreich kann jetzt nicht sagen, wir verzichten auf russisches Erdgas, wir brauchen es“, so Nehammer. Entsprechend einem am Dienstag von der EU-Kommission veröffentlichten Strategiepapier sollen die Energieimporte aus Russland zumindest rasch reduziert werden.
„Österreich kann jetzt nicht sagen, wir verzichten auf russisches Erdgas, wir brauchen es“
Karl Nehammer Österreichs Bundeskanzler
Selenskijs Botschaft
Ein weiterer Streitpunkt war die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, nachdem die Ukraine einen entsprechenden Antrag gestellt hat. In einer neuerlichen Videobotschaft erhob der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij die Frage zu einer „finalen Prüfung für Europa“. Auch warnte er vor einem möglicherweise bevorstehenden Einsatz von Bio- und Chemie-Waffen durch Russland.
Polen, Slowenien und die baltischen Staaten stützten Selenskijs Bitte um eine rasche Aufnahme, während Deutschland, Frankreich oder auch die Niederlande bremsten. Schließlich sicherten sowohl Macron als auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Ukraine zu, sie gehöre „zur europäischen Familie“, und forderten die Kommission zu einer baldigen Einschätzung auf. Dasselbe gelte für die Anträge von Georgien und Moldau.
Außerdem sollen weitere Waffen und Ausrüstung als Verstärkung für die ukrainischen Streitkräfte geliefert werden. Nach dem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell handelt es sich um militärische Unterstützung im Umfang von weiteren 500 Millionen Euro, nachdem bereits Ende Februar ein erstes Paket über 500 Millionen Euro bewilligt worden war. Einig war man sich über die Notwendigkeit, deutlich mehr in die eigene Sicherheit und Verteidigung zu investieren. „Zu mehr Souveränität und strategischer Autonomie zu gelangen, ist ein zwingendes Gebot“, sagte Macron.