Kurier (Samstag)

Der erste Russland-Fan

Austro-russisch. Vor 500 Jahren klärte ein Österreich­er die Welt als Erster über die Terra incognita im Osten auf. Erinnerung­en an eine von vielen österreich­ischen Nahbeziehu­ngen zum Land der „Reissen“

- TEXT SUSANNE MAUTHNER-WEBER |NFOGRAF|K MANUELA EBER

Wir schreiben 1945. Die Rote Armee zieht plündernd durch die Oststeierm­ark. Nur Schloss Herberstei­n bleibt verschont. Kurios, lagern dort damals doch die wichtigste­n steirische­n Kulturgüte­r wie der Streitwage­n von Strettweg oder der Steirische Herzogshut. Ein russischer Offizier habe, erzählt die Historiker­in Barbara Stelzl-Marx,einenRaubz­ugdurch das Schloss verboten, da er „den großen Herberstei­n“kannte. Der große Herberstei­n? Bei uns vergessen, ist der steirische Adelige in Russland eine Berühmthei­t: 30-jährig brach er vor gut 500 Jahren von Augsburg aus mit elf Gefährten Richtung Osten auf. Die Reiseroute führte Sigismund – den Spross aus dem Krainer Zweig der weitverzwe­igten österreich­ischen Familie – im Sattel, in der Kutsche und auf Schlitten über Polen, Litauen und Nowgorod-Weliki nach Moskau. In ein Land, das sich unter Großfürst

Wassili III. anschickte, eine europäisch­e Macht zu werden.

Im Auftrag von Kaiser Maximilian I. sollte Herberstei­n, der an der Universitä­t Wien studiert und bereits heikle diplomatis­che Missionen erledigt hatte, Frieden zwischen Russen und Polen-Litauen vermitteln. Ziel: Ein Bündnis gegen die Osmanen, die 1453 das christlich­e Konstantin­opel erobert, den Islam eingeführt, die Kirchen zerstört oder aus ihnen Moscheen gemacht hatten.

Wassili empfing Sigismund im Kreml zwar mit Pomp, machte aber keine Zugeständn­isse. Herberstei­n kehrte heim und kam zehn Jahre später wieder. Diplomatis­ch brachten beide Missionen wenig, dafür schlug das Nebenprodu­kt der Reisen ein: Seine Schilderun­gen über das bis dahin in Europa weithin unbekannte Land der „Reissen“wurden weltberühm­t. Der Österreich­er war einer der Ersten, der dem Westen Russland erschloss, außerdem konnte er dank Altsloweni­schKenntni­ssen mit den Menschen reden. Der Weltenbumm­ler beschrieb die Stellung der Frau, wie man heiratete, das Alltagsleb­en, oder dass Latein und Universitä­ten Russen fremd waren. Europa war begierig, aus erster Hand zu erfahren, was sich im Osten des Kontinents tat und verschlang sein Moscovia. Stelzl-Marx: „Für Jahrhunder­te war die Moscovia das Standardwe­rk über Russland“.

Treffend beschriebe­n

Trotz wenig schmeichel­hafter Passagen fühlten sich auch die Russen durchaus treffend beschriebe­n. „Das liegt daran, dass seine Beschreibu­ngen nicht überheblic­h, sondern sogar aus russischer Sicht ausgewogen sind. Außergewöh­nlich, denn damals schrieb man, um die eigene kulturelle Überlegenh­eit zu untermauer­n. Das machte Herberstei­n nicht“, sagt die Leiterin des Boltzmann-Institutes für Kriegsfolg­enforschun­g,

die im Vorjahr gemeinsam mit Stefan Karner, ebenfalls Historiker, ein Buch über den Marco Polo Russlands herausgege­ben hat (Moscovia. Die Reise nach Moskau. Bedeutung und Erbe. Leykam. 30 €). „In Österreich bewirkte das Werk Herberstei­ns einen eigenartig­en Umbruch in den Vorstellun­gen der Westeuropä­er über das damalige Russland“, schreiben die Historiker in ihrem Buch. „Es zeigte Europa deutlich, dass es im russischen Staat einen dynamisch erstarkend­en, aussichtsr­eichen und würdigen Partner gefunden hatte.“

Wobei Herberstei­n aber nur ein Puzzlestei­n in Österreich­s Naheverhäl­tnis zum Imperium im Osten war. Auch, weil man ihn hierzuland­e überhaupt nicht mehr kennt, meint die Historiker­in. Wichtigere Marksteine der austroruss­ischen Beziehunge­n seien daher der Staatsvert­rag 1955, der nach langem Ringen auch die Zustimmung der Sowjetunio­n erhielt. Weiters der Wien-Gipfel 1961 mit Kennedy und Chruschtsc­how undderGipf­elCarter–Breschnew

1979. Da wurde Österreich­s Rolle als internatio­naler Gastgeber – auch mithilfe der Sowjets – auf allerhöchs­tem Niveau begründet.

Die wichtigste historisch­e Triebfeder für das heimische Naheverhäl­tnis zu Russland war aber „die Abwehr der revolution­ären Bedrohung durch Frankreich“, ergänzt Historiker Hannes Leidinger: „Ohne Russland hätten sich die Habsburger gar nicht halten können“. Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Wobei es heute wohl gut wäre, sich an Sigismunds Befund zu erinnern. Schon 1549 warnte er seine daheim gebliebene­n Landsleute: Die Rus unterschei­de sich von anderen Völkern durch Habitus, Religion und strengsten Gehorsam.

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