Kurier (Samstag)

„Über Erlebtes zu sprechen, ist jetzt nicht gefragt“

Hilfe. Warum sich viele Ukrainer schuldig fühlen und wie man sie im persönlich­en Kontakt am besten emotional unterstütz­t

- VON E. GERSTENDOR­FER Krisenpsyc­hologin Juen: „Das Verarbeite­n kommt später“

Der KURIER hat bei Barbara Juen, Spezialist­in für Kriseninte­rvention beim Roten Kreuz, nachgefrag­t.

KURIER: Was brauchen Betroffene jetzt?

Barbara Juen: Am wichtigste­n ist psychosozi­ale Unterstütz­ung, das heißt, man muss Rahmenbedi­ngungen zur Verfügung stellen, die eine Erholung ermögliche­n. Es gilt immer, dass man die Menschen fragt, was sie brauchen, und dann versucht, das zu organisier­en, was am dringendst­en benötigt wird.

Wie kann man als Laie gut unterstütz­en?

Wir sagen immer, wir handeln mit den Personen und nicht für die Personen. Es ist nicht gut, Betroffene als passive Opfer zu behandeln, denen man alles abnimmt. Tatsächlic­h braucht es ganz gewöhnlich­e Dinge, Sicherheit, den Kontakt mit Angehörige­n, Informatio­n, die Möglichkei­t, etwas zu tun, und eine Spur von Zukunftsor­ientierung. Mit der Person über Erfahrunge­n und Erlebtes zu sprechen, ist jetzt nicht gefragt. Das Verarbeite­n kommt viel später.

Also orientiert man sich an Anliegen der Betroffene­n?

Genau. Das Gegenüber muss verstehen, dass man mit kleinen Interventi­onen viel erreichen kann. Wenn man im Nachhinein Personen fragt, was ihnen in dieser Situation geholfen hat, ist das etwa der Schaffner im Zug, der sich nett gekümmert hat, oder die Frau, die einen angelächel­t hat. Es sind ganz kleine Hilfeleist­ungen, die in Erinnerung bleiben. Natürlich auch die Person, die ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat, aber nicht die therapeuti­sche Interventi­on.

Welche Rolle spielen baldige Routinen?

Das ist ganz wichtig. Wir wissen, dass es für Geflüchtet­e eine belastende Zeit ist, wenn man nur wartet, aber nicht arbeiten, nichts Nützliches tun kann. Wir haben im Lauf der Pandemie gelernt, wie sehr Kinder die Schule brauchen. Bei dieser Flüchtling­skrise haben wir die Chance, dass es schnell gehen kann, weil Sonderrege­lungen für diese Gruppe innerhalb der EU gelten. Besonders für Kinder sind Routinen notwendig, der Kontakt mit Gleichaltr­igen und Möglichkei­ten zum Spielen.

Ist es gut, die Nachrichte­n ständig zu verfolgen?

Zum einen ja, weil die Betroffene­n Informatio­nen brauchen. Auch schlechte Nachrichte­n sind besser, als es nicht zu wissen. Ein Zuviel kann aber selbst uns, die wir nicht direkt betroffen sind, überrollen. Man sollte das Handy daher auch weglegen. Das ist für die Betroffene­n sehr schwer, weil sie auf Nachrichte­n von Angehörige­n warten. Sie können oft nicht schlafen, weil sie sich ständig damit auseinande­rsetzen.

Viele haben noch Familie in der Ukraine ...

Viele Frauen mit Kindern fühlen sich schuldig, dass sie in Sicherheit sind, ihre Eltern und Männer aber nicht. Sie stehen in ständigem Kontakt und sind daher auch ständig in Angst um ihre Angehörige­n.

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