Kurier (Samstag)

„Ich will von Putin nicht beschützt werden“

Lehrerin aus Odessa erzählt von ihrem dramatisch­en Alltag, den Ängsten ihrer Schüler und warum sie die Stadt nicht verlassen will

- Gespr▶ch AUS MA|LAND A. AFFATICATI

Nie im Leben hätten wir uns im Sommer vor zehn Jahren, als wir uns in Odessa kennenlern­ten, vorstellen können, uns inmitten dieser Tragödie wiederzuse­hen. Karina ist in ihrer Wohnung in Odessa, ich in meiner sicheren in Mailand, wir sprechen über Skype.

Karina Beigelzime­r ist 45 Jahre alt, Deutschleh­rerin und freie Journalist­in. Tiefe Schatten umringen ihre Augen. Man sieht ihr die Erschöpfun­g an. Odessa, die drittgrößt­e und wichtigste Hafenstadt des Landes am Schwarzen Meer, und ihre Einwohner bangen ums Überleben. Vor der Küste kreuzen russische Kriegsschi­ffe. Das ukrainisch­e Militär hat Barrikaden errichtet, um einen Angriff zu vereiteln.

„Gestern habe ich das erste Mal seit zehn Tagen durchgesch­lafen, weil es keinen Luftalarm gegeben hat“, erzählt Karina. „Normalerwe­ise hört man die Sirenen jede Nacht für mindestens zwei Stunden, vor ein paar Tagen heulten sie von zwei bis sieben Uhr morgens.“Trotz der dramatisch­en Situation versucht Karina, nicht aufzugeben.

Sie unterricht­et Klassen einer siebten, zehnten und zwei elfte Schulstufe­n – „aber nur mehr online.“Das ermögliche auch Schülern, die mittlerwei­le in der westlichen Ukraine oder schon im Ausland sind, weiter am Unterricht teilzunehm­en. „Die Schüler sind natürlich verstört, haben vor den Sirenen, die sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf schrecken, Angst. Sie sagen Sätze wie: ,Man hat uns unsere Kindheit gestohlen’“.

Obwohl Odessa von den Russen noch nicht direkt angegriffe­n worden ist, sei die Not groß. Nicht, was die Grundverso­rgung betreffe – an Lebensmitt­el in den Supermärkt­en fehle es nicht – es könne nur passieren, dass plötzlich Luftalarm ist „und wir alle sofort aus dem Geschäft laufen müssen“, erzählt Karina weiter.

Die Not bezieht sich auf die zunehmende Zahl an Arbeitslos­en: „Die Fachgeschä­fte und der Großteil der Lokale sind geschlosse­n, das heißt, viele haben keine Arbeit mehr.“Zwar garantiert der Staat eine einmalige Unterstütz­ung, doch es gibt viele Schwarzarb­eiter, und die gingen leer aus.

„Angreifer müssen weg“

Nach der Schule hilft Karina, wo immer Hilfe benötigt wird. Zum Beispiel vermittelt sie Menschen, die flüchten, Kontakte und Unterkünft­e im Westen des Landes oder im Ausland. Sie selber denkt zumindest im Moment noch nicht daran, wegzugehen: „Warum sollte ich? Odessa ist meine Heimatstad­t.

Die Angreifer müssen weg. Ich will von Putin nicht beschützt werden.“Außerdem seien da noch ihre schon sehr betagten Eltern.

„Natürlich hab ich Angst. Hunderttau­send Ängste. Die ersten Kriegstage waren besonders schlimm. Dann habe ich aber verstanden, dass ich reagieren muss. Sonst wäre ich verrückt geworden.“

Bevor wir uns verabschie­den, hält Karina einen Moment inne und sagt: „Meine größte Angst ist es, dass dieser Krieg sehr lange dauert. Dass die Russen weder gewinnen noch verlieren und deswegen nicht aufgeben.“

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Die Lehrerin Karina Beigelzime­r will nicht weg aus Odessa

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