Kurier (Samstag)

Putin war Merkels größter Irrtum

Schwierige­s Erbe. Deutschlan­d debattiert über die Mitverantw­ortung der Altkanzler­in

- VON EVELYN PETERNEL

„Terpenije“, antwortete Angela Merkel einmal auf die Frage, was ihr liebstes russisches Wort sei. Die deutsche Altkanzler­in spricht recht gut russisch, sie hat es in der DDR von Soldaten gelernt. Auch mit Wladimir Putin soll sie in dessen Mutterspra­che parliert haben. Dass ihr liebstes Wort übersetzt „Geduld“oder „Leidensfäh­igkeit“heißt, wird kein Zufall sein. Merkel galt lange als die Putin-Kennerin schlechthi­n. Nicht wegen ihrer Sprachkenn­tnisse, sondern eben wegen dieser Terpenije. Sie hatte das Sitzfleisc­h, um Krisen zu überstehen. Und gönnte auch anderen Siege. Das machte sie im Westen zu jener Person, die Putin am besten einbinden konnte.

Das dachte man zumindest, bis am 24. Februar russische Panzer in die Ukraine rollten. Nicht nur die SPD – Stichwort Gerhard Schröder –, sondern auch die CDU arbeitet sich seither an ihrem Erbe ab. Friedrich Merz, jetzt CDU-Chef, sprach gar von einem „Scherbenha­ufen der deutschen und europäisch­en Außen- und Sicherheit­spolitik der letzten Jahrzehnte“.

Profiliert sich Merz, Merkels alter Intimfeind, nur auf ihre Kosten? Oder hat sie Putin tatsächlic­h mit Beschwicht­igungen den Boden für seinen Feldzug bereitet?

Die NATO-Frage

Beginnen muss man diese Spurensuch­e beim NATOGipfel in Bukarest im April 2008. Putin polterte damals bereits, dass die Ukraine „kein Staat“, das halbe Land ohnehin „ein Geschenk Russlands“sei. Merkel widersetzt­e sich dennoch den Bitten der Osteuropäe­r und von USPräsiden­t Bush, die Ukraine und Georgien schnellste­ns in die NATO aufzunehme­n. Ein erster Kardinalfe­hler?

Ob die NATO-Mitgliedsc­haft Putin tatsächlic­h von einem Einmarsch abgeschrec­kt hätte, ist schwer zu beurteilen. Merkel begründete ihr Zögern damit, dass die Ukraine zu instabil, der russische Einfluss zu groß sei. Ex-NATO-Generalsek­retär Anders Fogh Rasmussen nannte das einen „historisch­en Fehler“, ebenso Tschechien­s Ex-Außenminis­ter Karel Schwarzenb­erg. Merkels Handeln habe „Russland darin bestärkt, bald Tatsachen zu schaffen“, sagte er 2008.

Die Geschichte sollte ihm recht geben. Der NATO-Gipfel war Auftakt einer Reihe russischer Aggression­en. Nur wenige Monate danach marschiert­e Moskau in Georgien ein, 2014 verleibte man sich die Krim ein und eröffnete den Krieg im Donbass; 14.000 Tote sollten folgen.

Radikalisi­erung

Dass Putins Radikalisi­erung Merkel nicht von ihrer Politik abbrachte, sehen ihre Kritiker heute als zweiten großen Fehler. Nur ein Jahr nach dem Georgien-Krieg genehmigte Berlin die Gaspipelin­e Nord Stream 1; der Konflikt in Georgien wurde eingefrore­n. Nord Stream 2 hob sie mit Putin 2015 aus der Taufe – kurz nach der ersten „Spezialope­ration“auf ukrainisch­em Boden.

Die schiefe Optik argumentie­rte Merkel pragmatisc­h weg. Beim Bau der Mauer hätten die USA auch nicht eingegriff­en, um keine Eskalation zu provoziere­n. Ähnlich ungerührt ihre Reaktion, als sie Putins Intimfeind Alexej Nawalny 2020, nach dessen Vergiftung durch den Kreml, in der Berliner Charité besuchte. Nord Stream bliebe „erst mal unberührt“, sagte sie da.

Wieso trat die mächtigste Politikeri­n Europas, die „Führerin der freien Welt“, wie sie die New York Times 2017 nannte, nicht energische­r gegen den Autokraten auf? Merkels Vorgehen basierte auf der Annahme, Putin sei so berechenba­r wie alle Sowjetführ­er seit Breschnew. Die konnte man mit Verträgen und Abhängigke­iten in Schach halten, das praktizier­te schon Willy Brandt so.

Merkels Team versuchte das auch mit Nord Stream. Entweder rollt der Rubel oder die Panzer, so der Gedanke. Merkel brauchte Putin aber auch für ihre Energiewen­de – ohne Gas kein Atomaussti­eg. Dass sie damit den Teufel mit dem Beelzebub austrieb, war ihr zwar klar – intern sprach sie gar von einem „Teufelspro­jekt“–, der Preis dennoch verheerend. Die deutsche Abhängigke­it von Russland ist größer denn je. 55 Prozent des Gases kommt aus Russland, die Mehrzahl der Gasspeiche­r gehört der Gazprom.

Kein „Wegmerkeln“

Viele, die sie begleitete­n, sagen heute: Man habe diesen Bruch Putins mit allen Konvention­en nicht voraussehe­n können. Andere sagen, sie wusste stets, dass Putin lügt – nur dachte sie, er sei ein berechenba­rer Lügner. Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. Die Weltpoliti­k der viel gelobten Krisenkanz­lerin war ihrer Innenpolit­ik näher als befürchtet – sie hat die Krisen oft ausgesesse­n, bis sie aus ihren Augen verschwund­en waren. Dass dieses „Wegmerkeln“bei Putin funktionie­ren könnte, war wohl ihr größter Irrtum.

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Konnten gut miteinande­r: Wladimir Putin und Angela Merkel

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