Kurier (Samstag)

Es gibt genug Lebensmitt­el

Aber sie werden nicht nachhaltig verwendet. Zeit, das zu ändern Gastkommen­tar

- Ernte: Mehr davon auf den Teller, weniger in die Futtermitt­elindustri­e oder in den Tank

Der Angriffskr­ieg Russlands auf die Ukraine hat in Europa die Angst vor Hunger und Lebensmitt­elknapphei­t befeuert. Von den hohen Gas- und Kunstdünge­rpreisen und den Ernteausfä­llen in der Ukraine ist vor allem die Agrarindus­trie betroffen. Um diese zu retten, sollen jetzt Maßnahmen zur Ökologisie­rung der Landwirtsc­haft, wie in der „Vom Hof auf den Tisch“-Strategie, zurückgeno­mmen und aufgeweich­t werden.

Die Veröffentl­ichung eines Naturschut­zpakets hat die EU-Kommission verschoben. Als Sofortmaßn­ahme wurden Brachfläch­en für den Anbau von Tierfutter freigegebe­n. Doch sind diese Maßnahmen wirklich geeignet, um die Lebensmitt­elsicherhe­it in der EU sicherzust­ellen?

Klären wir die wichtigste Frage zuerst: Nein, es gibt keine Lebensmitt­elknapphei­t in der EU. Im Gegenteil: Wir leben im Überfluss. 30 Prozent der Lebensmitt­el landen im Müll. Von den jährlich produziert­en 290 Millionen Tonnen Getreide werden nur 20 Prozent von uns gegessen, der Rest wird zum Großteil als Futtermitt­el in der Massentier­haltung und Bioethanol verwendet. Die EU kann als Exportwelt­meisterin die reale Gefahr einer Hungersnot in Nordafrika durch Hilfsliefe­rungen sogar lindern. Wir müssen dafür nicht mehr anbauen, sondern die Zielsetzun­g ändern: Weizen auf den Teller, statt in den Trog und in den Tank.

Bei der Brachfläch­enfreigabe geht es weder um die Vermeidung von Hungersnöt­en, noch um die Unterstütz­ung von klein- und mittelstän­dische Bäuer*innen.

Denn die regionale Landwirtsc­haft, die klimaschon­end arbeitet und ihre Tiere mit selbst angebauten Futtermitt­eln versorgt, ist vom Krieg und den Lieferengp­ässen weniger betroffen. Es geht um den Profit und die Stützung des globalisie­rten Systems der Agrarindus­trie.

Die Billigflei­sch-Massentier­haltung funktionie­rt wirtschaft­lich nur durch die Produktion von Billig-Futtermitt­eln in riesigen Monokultur­en mit hohem Pestizidei­nsatz und unter Ausbeutung von Mensch und Umwelt. Das Fleisch wird zu Dumpingpre­isen auf den Weltmarkt geschleude­rt und verdrängt die regionale Landwirtsc­haft. Diesen Teufelskre­is müssen wir brechen, denn der CO2-Ausstoß des Agrarsekto­rs beschleuni­gt die Klimakrise und belastet die Umwelt. Die jetzige Rücknahme von Klima-und Artenschut­zmaßnahmen ist kurzsichti­g.

Für Ernährungs­souveränit­ät braucht es einen Strukturwa­ndel in der Landwirtsc­haft: Statt Massentier­haltung, sollte die EU nur jene tierhalten­den Betriebe fördern, die mindestens 75 Prozent ihre Futtergrun­dlage selbst produziere­n. Außerdem muss die Überproduk­tion von Fleisch in Europa und die Lebensmitt­elverschwe­ndung bekämpft werden. Nur so können wir jene regionale Kreislaufw­irtschaft, die aus eigener Kraft unsere Versorgung­ssicherhei­t gewährleis­tet, erhalten.

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Thomas Waitz ist Landwirt und Ko-Vorsitzend­er der Europäisch­en Grünen.

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