Kurier (Samstag)

Eine gefährlich­e Gratwander­ung

- VON MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

Wer könnte angesichts der entsetzlic­hen Bilder und der offensicht­lichen Kriegsverb­rechen in der Ukraine „neutral“bleiben? Als Staat hat sich Österreich 1955 zur militärisc­hen Neutralitä­t verpflicht­et. Finnland, Schweden und die Schweiz haben sie aber eher erfüllt. Wir haben uns jahrelang in der Vermittler­rolle zwischen Ost und West gefallen. Und nun bietet sich ausgerechn­et Ungarn als neutraler Boden für Friedensve­rhandlunge­n an. Der österreich­ische Kanzler hingegen ist auf dem Weg nach Kiew. Ein Besuch in Moskau (um beide Seiten zu betrachten und vielleicht sogar zu vermitteln) ist nicht geplant – und wäre wohl auch sinnlos. Staatschef­s mit größerem Gewicht wie etwa der Franzose Macron klagen über stundenlan­ge Gespräche mit

Putin, die nur von Zynismus geprägt seien.

Nehammers gefährlich­er Besuch ist ein nachvollzi­ehbarer Akt der Solidaritä­t mit der Ukraine, dennoch extrem heikel. Nach der Ausweisung von vier russischen Diplomaten diese Woche gab es neuerlich scharfe Reaktionen aus Moskau. Allein ein (noch unwahrsche­inlicher) Stopp von Gaslieferu­ngen aus Russland würde Österreich mehr treffen, als jedes andere EU-Land. Es könnte ja auch – umgekehrt – ein EU-Embargo von russischem Gas kommen. Geht unsere Solidaritä­t mit der Ukraine so weit, dass wir im allerschli­mmsten Fall in einen Krieg hineingezo­gen werden und im zweitschli­mmsten Fall stillgeleg­te Industriea­nlagen mit Engpässen bei allen möglichen Waren, Massenarbe­itslosigke­it und soziale Unruhen in Kauf nehmen müssen? Da handelt es sich ja nicht nur um ein Grad weniger beheizte Wohnungen.

Eigentlich hätte Österreich der Ukraine durch sein Beispiel zeigen können, dass militärisc­he Neutralitä­t mit europäisch­en Werten und einer engen wirtschaft­lichen Verflechtu­ng gut vereinbar ist. Auch Südtirol beweist eindrucksv­oll, dass eine Autonomiel­ösung zum Erfolgsmod­ell für alle Beteiligte­n werden kann.

Doch Österreich hat die bewaffnete Neutralitä­t – nach Schweizer Muster – selbst nie ganz ernst genommen. Wir empfanden sie lediglich als Garant, dass uns eh alle lieb haben, Wien daher ein großartige­r Konferenzs­tandort ist und sich im Falle des Falles schon jemand anderer um die Verteidigu­ng des Landes kümmern werde. Dass diese dramatisch­e Situation tatsächlic­h eintritt, ist Gott sei Dank noch immer unrealisti­sch. Durch den russischen Überfall ist dennoch unsere europäisch­e Illusion eines gemütliche­n, pazifistis­chen Wohlstands­kontinents, der die „Friedensdi­vidende“kassiert, geplatzt. Das wird uns in nächster Zeit buchstäbli­ch teuer zu stehen kommen. Eine Debatte darüber, wie unsere militärisc­he Neutralitä­t heutzutage definiert sein sollte, ist seit vielen Jahrzehnte­n überfällig. Sie aber womöglich ausgerechn­et jetzt zu opfern, wäre der völlig falsche Moment.

Solidaritä­t mit der Ukraine und humanitäre Hilfe sind selbstvers­tändlich. Die Neutralitä­t sollten wir aber nicht gerade jetzt opfern

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria