Kurier (Samstag)

Unser Blut als Flüssiggas

Russland hat in Syrien wohl für die Ukraine geübt Gastkommen­tar

- Die vergessene­n Gräuel in Syrien: Kinderleic­hen werden in Idlib abtranspor­tiert

Viele Nachrichte­n erreichten mich in letzter Zeit in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Manche fragen, wie es mir damit geht und andere, warum ich mich nicht dazu äußere. Der Krieg an sich, die Kämpfe, die Zerstörung­en und der Wahnsinn Putins irritieren mich emotional nicht.

Denn die Bilder von fallenden Raketen, zerstörten Wohngebiet­en und verstümmel­ten Körper der Zivilisten erreichen mich aus Syrien tagtäglich.

Alles wirkt so, als hätte Putins Regime in Syrien geübt. Denn sie verwendete­n die gleichen Strategien und es wurde mehrfach bestätigt, dass viele Soldaten, die in der Ukraine kämpften, bereits in Syrien im Einsatz waren.

Anders aber ist die Reaktion der EU und der USA. Denn sie sahen sich nicht genötigt, gegen die Verbrechen des russischen Regimes in Syrien irgendwelc­he Sanktionen zu verhängen.

Ein Arzt aus der Provinz Idlib in Syrien schrieb nach der Zerstörung seines Krankenhau­ses durch die russische Luftwaffe in den sozialen Medien: „Wegen uns Sanktionen zu verhängen, rentiert sich nicht. Denn unser Blut ist das Flüssiggas, das Wohnungen in Europa warmhält.“

Schmerz in meiner Brust

Aber im Herzen völlig erschütter­t und getriggert hat es mich, die Ukrainer:innen auf der Flucht zu sehen. Ich konnte die Angst, die Verstörung und den Schmerz in meiner Brust und in meinem Mund spüren. Es war äußerst unerträgli­ch, dass noch mehr Menschen entwurzelt und vertrieben und sich an Gewalt gewöhnen werden.

Das ist die größte Rechnung, die uns der Krieg präsentier­t: Menschen, die ihn nicht angezettel­t und nicht gewollt haben, werden ihres Friedens beraubt.

Auch diejenigen, die den Krieg begonnen haben, werden nichts gewinnen, denn sie werden ihrer Menschlich­keit entleert.

Der einzige Gewinner im Krieg ist: niemand.

Krieg ist der unzivilisi­erteste Ausdruck des Menschsein­s. Unzivilisi­ert ist ebenfalls die Doppelmora­l mancher Staaten im Umgang mit geflüchtet­en Menschen. Wo Polen und Ungarn syrische und afghanisch­e Menschen an ihren Grenzen brutal zurückscho­ben und sie ungerührt erfrieren ließen, werden jetzt Ukrainer:innen mit offenen Armen vorbehaltl­os empfangen, weil sie angeblich weiße Haut, bessere Bildung und die gleiche Religion haben.

Epah, ein Freund, den ich in der Grundverso­rgung vor Jahren betreut habe, der nach sechs Jahren in Österreich drei Ablehnunge­n seines Asylbesche­ides bekommen hat und dem jeden Augenblick die Abschiebun­g droht, schrieb mir angesichts dieser Doppelmora­l, dass er sich wertlos fühlt.

Diese Doppelmora­l macht mich sehr traurig. Sie ist nicht nur rassistisc­h, sondern auch eine Schande in der Geschichte Europas.

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Jad Turjman ist gebürtiger Syrer. Er kam im Jahr 2015 nach Österreich und lebt als Autor in Salzburg.

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