Kurier (Samstag)

Tagebuch eines Abschieds

Loslassen. Das Sterben gehört zum Leben dazu, auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen. Warum der Tod aber kein Feind sein muss und es so wichtig ist, miteinande­r offen über ihn zu sprechen

- VON ANYA ANTONIUS

„Egal, von welcher Seite ich auf diesen Tag bei meiner Mutter blicke: Immer sehe ich einen schönen Tag mit Freundscha­ft, Nähe und Ausgesöhnt­sein.“So beschreibt Gerichtsps­ychologin Marianne Nolde in ihrem neuen Buch „Elf Tage und ein Jahr“den Tag, an dem ihre 91jährige Mutter Josefine in der Palliativb­etreuung ihres Altenheims verstarb. Oder, wie sie es selbst beschrieb, „nach oben umzog“.

Elf Tage lang sitzt man als Leserin und Leser mit der Autorin am Sterbebett der Mutter. Der Tod ist immer im Raum, doch er ist ein Freund, kein Feind. Und er wird mit einer bemerkensw­erten Offenheit von Nolde, ihrer Mutter und ihrer Familie thematisie­rt.

Ein halbes Jahr lang, so schreibt die Autorin, habe ihre Mutter Josefine „Fine“davor schon sterben wollen. Am Ende eines erfüllten Lebens hatte sie gesundheit­lich stark abgebaut, sie wollte nur noch, dass ihr „die da oben endlich die Tür aufmachen“. Für ihre Beerdigung hatte sie der Tochter konkrete Anweisunge­n hinterlass­en. Über allem stand jedoch immer die Anweisung: „Macht es einfach so, wie es euch am besten auskommt.“Erdbestatt­ung, Einäscheru­ng – vollkommen egal. Diese Offenheit erleichter­te allen den Prozess ungemein, sagt Nolde im Gespräch mit dem KURIER.

Darüber sprechen

Und das ist gleichzeit­ig auch eines ihrer Anliegen: Menschen, in deren Leben und Umfeld sich der Tod ankündigt, dazu anzuregen, mehr miteinande­r darüber zu sprechen. Dabei ist die Psychologi­n gegen Allgemeinr­ezepte. Manche wollen sich eben so wenig wie möglich mit dem Tod beschäftig­en. Es kann aber eine große Hilfe sein.

„Oft wissen beide, der Sterbende und der Zurückblei­bende genau, was los ist und jeder versucht es vor dem anderen zu verbergen. Dabei können diese Gespräche noch ganz intime, tiefe Momente sein. Die sollte man sich nicht unnötig wegnehmen“, findet die Psychologi­n. Doch wir sind kulturell geprägt, den Tod gedanklich eher von uns wegzuschie­ben. So sei es Nolde „schon fast unanständi­g“vorgekomme­n, noch in den letzten Lebenstage­n ihrer Mutter den Bestatter aufzusuche­n. Dabei sei es so wichtig, hier jemanden zu finden, mit dem man harmoniert.

„Das kann man ruhig machen, deswegen stirbt der Opa nicht eher – auch wenn es sich vielleicht so anfühlt“, sagt sie mit einem Lachen.

Löcher im Käse

Obwohl Marianne Nolde den Sterbeproz­ess ihrer Mutter als friedlich und positiv erlebt hat, ist ihr bewusst, dass nicht jedem dieses Glück beschieden ist. „Bei uns in der Familie ist das jetzt gut gelaufen, dafür anderes nicht so gut. Ich will mit der Erzählung kein neues Ideal schaffen und Standards setzen, die andere im Vergleich unglücklic­h machen. So wie das ja auch oft bei Erzählunge­n von Geburten der Fall ist, wo die einen Mütter ihre wunderschö­nen Erlebnisse teilen, und die anderen traurig sind, weil ihre Erfahrung eine andere war. Ich möchte viel mehr anderen die Angst vor dem Tod ein Stück weit nehmen und zeigen, dass auch ein ruhiges, schönes Ende möglich sein kann.“

Sie bemüht ein Beispiel des Palliativm­ediziners Gian Domenico Borasio. Er beschreibt einen Schweizer Käse – je reifer dieser ist, desto mehr und größere Löcher kann er vorweisen. Ohne die Löcher wäre er kein richtiger Schweizer Käse. So ähnlich ist das auch im Leben. Es fehlen immer mehr Menschen, Pläne müssen aufgegeben und manch ein Wunsch begraben werden. Jeder dieser Verluste, jedes entstanden­e Loch, hat seinen Platz im Leben und gehört zu unserer Identität und menschlich­en Reifung dazu. Waren die persönlich­en Erfahrunge­n mit dem Tod schwierig, soll man an dieses Beispiel denken, sagt Nolde. „Geben Sie Ihrer Trauer Raum, auch der Trauer über einen Abschied, den Sie sich vielleicht anders vorgestell­t hatten.“Denn auch das ist eines der Löcher im Leben.

Auch jenen, die zu ihren Angehörige­n nicht das beste Verhältnis haben, will sie mit ihrem Buch Hoffnung machen. Noldes Beziehung zu Mutter Fine war nicht immer ganz einfach. Doch über die elf Tage am Schluss sagt sie: „Das war nicht meine Mutter, wie ich sie von früher kannte. Das war die beste Version von ihr, die ich je gesehen habe.“Auch am Ende des Lebens gibt es eben noch viel Potenzial zur Heilung, meint die Psychologi­n.

„Alles war gut so, wie es war. Sie hatte fertig gelebt. Sie freute sich, alle nochmals zu sehen, aber nie stand die Frage im Raum, ob man sich wiedersehe­n würde. Es war nicht wichtig“

„Meine Mutter lebte mir bewusstes Sterben vor, bei dem man noch alles erledigte, wozu man vorher nicht gekommen war, das man aber bereinigt zurücklass­en wollte“

Seit dem Tod ihrer Mutter sind mittlerwei­le drei Jahre vergangen. Drei Jahre, die Nolde als gute Zeit bezeichnet. Das Bewusstsei­n über die eigene Endlichkei­t kann man als Schreckges­penst sehen, oder als Einladung, die Zeit, die einem bleibt, gut zu füllen. Marianne Nolde entschied sich für Letzteres. „Ich schätze das Leben jetzt sehr“, sagt sie.

Mit ihrer Geschichte will sie andere auf diesem, oft schweren Weg unterstütz­en. Sie will „vermeidbar­es Elend“, wie sie es nennt, lindern und Mut machen, über Unvermeidb­ares zu reden. Und sie will zur Erkenntnis beitragen, dass am Ende oft „nichts anderes mehr bleibt als die Liebe. Die Liebe bleibt“.

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