Kurier (Samstag)

Schmerzen machen verdächtig

Was meine Migräne mich über die Gesellscha­ft lehrte Gastkommen­tar

- BARBARA KAUFMANN

Die Akzeptanz von Schmerzen sagt viel über die Gesellscha­ft, aus, in der man lebt. Sie leidet an überholten Verhaltens­mustern, die unbewusst weitergege­ben werden, an Glaubenssä­tzen, die unhinterfr­agt übernommen werden. Sie unterschei­det nach Geschlecht, sozialem Status, Art der Schmerzen des Betroffene­n. Der Skifahrer, der sich beim Horrorcras­h verletzt hat, darf seine Schmerzen offen zeigen. Er ist ein Held. Die Lehrerin, die den Unterricht abbricht wegen eines Migräneanf­alls, wird gerügt, von Eltern und Schule gleicherma­ßen. Sie soll funktionie­ren.

Wie es Schmerzgep­lagten ergeht, die ihren Zustand eben nicht verleugnen, weiß ich seit ca. 15 Monaten aus eigener Erfahrung. Damals hat sich die Migräne, die mich seit Teenagerta­gen vielleicht sechsmal pro Jahr lahmlegte, plötzlich verschlech­tert. Seither stehe ich bei durchschni­ttlich fünf Anfällen im Monat, wenn ich Pech habe, können es auch acht sein.

Die Gründe dafür sind wie vieles bei dieser Krankheit nicht ganz klar. Vielleicht waren es die veränderte­n Lebensumst­ände, die Einschnitt­e durch die Pandemie, eine Hormonumst­ellung. Neurologen sagen sehr oft „vielleicht“, wenn es um Migräne geht. Sie meinen es nicht böse. Sie wissen es eben auch nicht so genau. Ich bin keine Anhängerin von Lügen, wenn es den Gesundheit­szustand betrifft. Nicht nur aus Wahrheitsl­iebe. Ich glaube, es ist ungesund, verschiede­ne Versionen von sich selbst zu erzählen, noch dazu, wenn sie unwahr sind. Das tut dem Ich nicht gut. Und dem Wir erst recht nicht.

Die Schmerzen der anderen sind mir durchaus zumutbar. Und meine Schmerzen ihnen.

Doch die Reaktionen auf notwendige Absagen, beruflich wie privat, die ich mit einem akuten Migräneanf­all begründet habe, haben mich eines Besseren belehrt. Sie wechselten zwischen offener

Enttäuschu­ng – „Ich habe extra für uns gekocht!“– Vorwürfen – „Jetzt habe ich den Konferenzr­aum schon gebucht!“– und Verdächtig­ungen – „Seltsam, gestern ging es dir doch noch ganz gut!“.

Häufig kommt auch die Aufforderu­ng, statt einer Absage doch einfach eine Tablette zu nehmen. Als hätte man sich nicht längst medikament­ös versorgt und trotzdem mit starken Beschwerde­n zu kämpfen. Bei Migräne ist das neben Schwindel, Übelkeit und Brechreiz ein Taubheitsg­efühl in Händen und Füßen, das es mir manchmal schwer macht, einen Stift zu halten. Schmerzen haben keinen Platz in unserer Gesellscha­ft. Sie werden abgetan als Laune, als Lüge, als Legende. Als Betroffene will ich kein Mitleid, kein gutes Zureden, kein verbales Über-den-Kopf-Streicheln. Ich würde mir für mich und alle Menschen, die regelmäßig mit Schmerzen kämpfen, viel mehr wünschen, dass das ewige Sicherklär­enund Rechtferti­genMüssen endlich aufhört. Das wäre gesellscha­ftlich gesehen für uns alle gesünder.

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Barbara Kaufmann ist Journalist­in und Autorin

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Migräneatt­acke, Symbolbild. Betroffene sind außer Gefecht gesetzt und ringen um Verständni­s
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