„Auf seltsame Weise fördert Krieg Kunst“
Interview. Slava Wakartschuk, Leadsänger der berühmten ukrainischen Rockband Okean Elzy, über den Krieg in seiner Heimat, das Verhältnis zu Russland sowie über Kraft und Ohnmacht der Musik
Man könnte ihn als den ukrainischen Bono bezeichnen. Er ist Leadsänger der berühmten ukrainischen Rockband Okean Elzy. Er hat ein Doktorat in Physik, ist kultureller Ehrenbotschafter des UN-Entwicklungsprogramms. Und jetzt kämpft er für sein Land: Slava Wakartschuk, 46, erreichten wir via Zoom in einer geheimen Location.
KURIER: Wo sind Sie derzeit? Slava Wakartschuk: Ich bin in Dnipro, einer der größten Städte der Ostukraine. Ich war vor einigen Tagen noch weiter östlich und habe Leute aus Luhansk getroffen, Militär und Polizei. Ich war in einem Krankenhaus und bin zu einem Busparkplatz gefahren, auf dem Menschen darauf warten, zum nächsten Bahnhof gebracht zu werden, um in den Westen zu gelangen. Dort sieht es aus wie in einem Flüchtlingslager. Ein Tag geht in den nächsten über, manche sind gefährlich, manche sind sentimental, andere sind grauenhaft. Wir hoffen, dass alles so schnell wie möglich vorbei ist.
Wenn Sie mit Menschen in den Krankenhäusern sprechen, was erzählen sie?
Vor Kurzem lernte ich einen Mann Mitte 30 kennen, dem das Bein amputiert wurde. Er war aus Butscha. Er hatte versucht, mit seiner Familie zu fliehen. Die Russen hielten sie auf und ermordeten seine Frau und beide Söhne und schossen ihm ins Bein. Ich habe viel gesehen und viel gehört, aber das war das Schlimmste. Im Übrigen geht es in Mariupol noch viel fürchterlicher zu.
Sie hatten ein wunderbares Leben, sind verheiratet, haben ein Baby und Sie sind ein Rockstar. Wie haben sich Ihre Prioritäten verändert?
Jeder, der einmal Krieg erlebt hat, weiß, dass Krieg alles schwarz-weiß macht. Du siehst keine Farben mehr. Das ist sehr frustrierend, aber auch sehr simpel. Dinge wie Ruhm bedeuten nichts mehr. Das Einzige, das zählt, ist Sicherheit für die Familie, für die Freunde und das ganze Land. Unser einziges Ziel ist, Russland davor zu stoppen, unsere Nation zu zerstören, denn allein die Idee einer ukrainischen Nation ist in ihren Augen eine Unmöglichkeit. Für mich selbst wird sich in Zukunft einiges verändern. Mein Leben war nie sehr luxuriös, aber wenn der Krieg vorbei ist, werde ich noch bescheidener und simpler leben.
Ihr Präsident sprach während der Grammyverleihung darüber, wie stark Musik Menschen verbindet.
Ich stimme Präsident Selenskij zu. Musik und Kunst im Allgemeinen kann die Welt retten, denn Kunst ist pure Emotion. Und das ist das Gegenteil von Krieg. Ich kann mich gut in John Lennon hineinversetzen, der „Imagine“gesungen hat. Obwohl die Zeile „Imagine there’s no country“in der derzeitigen Situation fragwürdig ist, denn das ist genau das, was Putin macht – sich vorstellen, dass Ukraine kein Land ist. Aber auch die Mehrheit der russischen Bevölkerung erkennt die Existenz nicht an. Das ist der Hauptgrund für diesen Krieg. Musik ist wichtig, weil sie die Nation eint, aber die Aggression der Russen kann sie nicht stoppen. Das können leider nur Waffen.
Was halten Sie von der Theorie, dass die meisten Russen aufgrund des Informationsstopps der Regierung gar nicht wissen, was wirklich vorgeht und sie es nicht gutheißen würden?
Davon halte ich gar nichts, weil es nicht stimmt. Dass die Jüngeren aufwachen und kritisches Denken entwickeln, kann schon sein, aber erwartet keine große Revolution, das ist nicht in der russischen Seele. Ich habe mehr russische Städte bereist und
mit mehr Leuten gesprochen als die meisten Russen. Ich kenne die Mentalität. Ich habe mit meiner Band in vielen Stadien gespielt, wir waren riesig in Russland und haben Millionen Fans dort. Aber es macht mich nicht glücklich, dass viele, die sich Okean Elzy anhören und zu unseren Konzerten kamen, jetzt Putin unterstützen.
Wie hat die Erfahrung des Kriegs Ihre Musik verändert?
Gute Frage, aber eine, die ich vermutlich noch nicht beantworten kann. Ich sang heute in einer Polizeistation, und danach habe ich zum ersten Mal seit Beginn des Krieges hier in meinem Hotelzimmer die Gitarre herausgeholt und begonnen, einen Song zu schreiben. Der Text hat mit dem ukrainischen Widerstand zu tun. Am 22. April bringen wir eine Single heraus, eine Coverversion von Joe Cockers „You are so Beautiful“, die ich ganz simpel nur mit dem Piano aufgenommen habe und der Ukraine widme. Auf eine seltsame Weise fördert Krieg Kunst, denn wenn der Krieg vorbei ist, gibt es eine Explosion an Kunst, das kann man durch die Geschichte verfolgen.