ÖGB-Chef Katzian will von Lohn-Preis-Spirale nichts wissen
Zum 1. Mai: Eine Bestandsaufnahme zur Rolle der Gewerkschaft
Interview. ÖGB-Chef Wolfgang Katzian fordert einmal mehr eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und kräftige Lohnerhöhungen bei den aktuellen Kollektivvertragsverhandlungen: „In den letzten zwei Jahren haben wir wirklich moderate Abschlüsse gehabt – und die Gewinne sind gesprudelt, und manche sind nur mehr mit den Eurozeichen in den Augen herumgerannt.“Zudem meint Katzian, dass der Finanzminister die Sondergewinne der Energiekonzerne unter die Lupe nehmen müsste.
Mitgliederzahl stabil
Seit gut einem Jahrzehnt hält die Gewerkschaft ihre Mitglieder-Zahl bei 1,2 Millionen stabil. Die Historikern Brigitte Pellar ist der Meinung, dass die Bedeutung der Gewerkschaft vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen und den Umbrüchen in der Arbeitswelt zunimmt. Das sieht man auch in den USA, wo die Gewerkschaftsbewegung gerade an Fahrt aufnimmt. Etwa bei Großkonzernen wie Starbucks, Apple und Amazon.
Seit den Anfängen der österreichischen Gewerkschaft Ende des 19. Jahrhunderts hat sich innerhalb der Bewegung viel verändert – die Bedeutung des 1. Mai, Tag der Arbeit, ist jedoch gleichgeblieben. „Es geht immer noch um Gleichberechtigung und Existenz der arbeitenden Menschen“, sagt Brigitte Pellar, Historikerin mit dem Spezialgebiet Gewerkschaft und Interessensvertretung. Es ging immer schon um ein menschenwürdiges Leben, in dem die arbeitenden Menschen so etwas wie Zeitmanagement haben und die Arbeit nicht das ganze Leben auffrisst. Das Thema sei heute wieder so aktuell wie schon lange nicht mehr.
Die österreichische Arbeiterbewegung sei immer sehr fortschrittlich gewesen und habe nie gesagt, Arbeit ist schlecht, betont die Historikerin. Ziel war es, in einer sich in allen Bereichen weiter entwickelnden Gesellschaft für die Mehrheit ein gutes Leben zu ermöglichen. Insofern sei die Verlängerung der maximalen Arbeitszeit von zehn auf zwölf Stunden durch die letzte ÖVPFPÖ-Regierung ein negativer Durchbruch in einer 100 Jahre langen Tradition gewesen.
„Für die betroffenen Berufe ist das total benachteiligend“, sagt Pellar. Sie spricht damit zum Beispiel Mitarbeiter in der Gastronomie oder im Tourismus an. Die körperliche Belastung sei hoch, die Möglichkeiten für Familienmanagement dementsprechend gering. Natürlich werde das – wo sich Profit herausholen lasse – ausgenutzt, ist die Historikerin überzeugt.
In Österreich wird aber nicht nur über Arbeitszeitverlängerung, sondern auch über Arbeitszeitverkürzung gesprochen, und das nicht nur von der Gewerkschaft, sagt Pellar. „Es gibt auch Unternehmen, die versuchen, die VierTage-Woche auszutesten. Das ist nicht nur eine Forderung der Gewerkschaft.“Produktionen und Dienstleistungen würden sich verändern. Da die Produktivität gestiegen sei, würden Menschen heute in der gleichen Zeit mehr leisten, erklärt Pellar. Eine Verlängerung der Arbeitszeit bezeichnet sie als „neue Form der Ausbeutung“, da die Menschen trotz höherer Leistung mehr arbeiten müssten.
Große Umwälzungen
Nicht nur der Arbeitsmarkt, auch die Mitgliederstruktur der Gewerkschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Die Zahl der Angestellten ist gestiegen, jene der Arbeiter gesunken. Gab es 1945 noch 16 Teilgewerkschaften, so sind es heute nur noch sieben, analysiert die Historikerin. Viele Bereiche wurden zusammengelegt. Wie stark die einzelnen Gewerkschaften sind, hängt stark von deren Organisierungsgrad ab, sprich, wie hoch der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder in einer Branche ist. Bei den Metallern ist er beispielsweise sehr hoch, auch bei den Eisenbahnern.
Je höher der Organisationsgrad, desto besser könnten die Teilgewerkschaften ihre Forderungen gegenüber der Politik durchsetzen, so Pellar. Schwerer tut sich die Gewerkschaft bei neuen Berufen, weil diese oft nicht leicht zu organisieren seien, wie zum Beispiel Fahrradboten. Vielen Menschen, vor allem Jungen, sei heute oft gar nicht bewusst, welche Bedeutung die Gewerkschaft für sie habe. Die Mitgliederzahl hat in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen, seit 2010 hat sie sich aber bei 1,2 Millionen stabilisiert. Im internationalen Vergleich sei das beachtlich.
Die klassische Sozialpartnerschaft gibt es aus ihrer Sicht nicht mehr. Die Regierung habe sich in den 1990er-Jahren aus dem System zurückgezogen.
Das habe der Gewerkschaft Einfluss gekostet.
Bei den Kollektivvertragsverhandlungen sei sie aber nach wie vor stark, auch wenn diese ruppiger geworden seien. Die Corona-Pandemie habe die Bedeutung der Gewerkschaften wieder in den Vordergrund gerückt. „Die Gewerkschaft konnte wieder ihre
Stärke zeigen.“Regelungen, wie Homeoffice, wären ohne sie nicht so leicht möglich gewesen.
Durch den Krieg in der Ukraine kommen neue Aufgaben auf die Gewerkschaft zu.
Es wird wirtschaftliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die Arbeitsmarktpolitik geben.
Außerdem müssten Vertriebene in den heimischen Arbeitsmarkt integriert werden, meint die Historikerin. Die turbulenten Zeiten würden ohnehin weitergehen. Alleine der Klimawandel werde für große Umwälzungen sorgen, nicht nur im Mobilitätsbereich, Stichwort Pendler. Der 1. Mai werde also auch weiterhin seine Bedeutung für ein „menschenwürdiges Leben“beibehalten.