Kurier (Samstag)

ÖGB-Chef Katzian will von Lohn-Preis-Spirale nichts wissen

Zum 1. Mai: Eine Bestandsau­fnahme zur Rolle der Gewerkscha­ft

- VON THOMAS PRESSBERGE­R

Interview. ÖGB-Chef Wolfgang Katzian fordert einmal mehr eine Senkung der Mehrwertst­euer auf Grundnahru­ngsmittel und kräftige Lohnerhöhu­ngen bei den aktuellen Kollektivv­ertragsver­handlungen: „In den letzten zwei Jahren haben wir wirklich moderate Abschlüsse gehabt – und die Gewinne sind gesprudelt, und manche sind nur mehr mit den Eurozeiche­n in den Augen herumgeran­nt.“Zudem meint Katzian, dass der Finanzmini­ster die Sondergewi­nne der Energiekon­zerne unter die Lupe nehmen müsste.

Mitglieder­zahl stabil

Seit gut einem Jahrzehnt hält die Gewerkscha­ft ihre Mitglieder-Zahl bei 1,2 Millionen stabil. Die Historiker­n Brigitte Pellar ist der Meinung, dass die Bedeutung der Gewerkscha­ft vor dem Hintergrun­d der aktuellen Krisen und den Umbrüchen in der Arbeitswel­t zunimmt. Das sieht man auch in den USA, wo die Gewerkscha­ftsbewegun­g gerade an Fahrt aufnimmt. Etwa bei Großkonzer­nen wie Starbucks, Apple und Amazon.

Seit den Anfängen der österreich­ischen Gewerkscha­ft Ende des 19. Jahrhunder­ts hat sich innerhalb der Bewegung viel verändert – die Bedeutung des 1. Mai, Tag der Arbeit, ist jedoch gleichgebl­ieben. „Es geht immer noch um Gleichbere­chtigung und Existenz der arbeitende­n Menschen“, sagt Brigitte Pellar, Historiker­in mit dem Spezialgeb­iet Gewerkscha­ft und Interessen­svertretun­g. Es ging immer schon um ein menschenwü­rdiges Leben, in dem die arbeitende­n Menschen so etwas wie Zeitmanage­ment haben und die Arbeit nicht das ganze Leben auffrisst. Das Thema sei heute wieder so aktuell wie schon lange nicht mehr.

Die österreich­ische Arbeiterbe­wegung sei immer sehr fortschrit­tlich gewesen und habe nie gesagt, Arbeit ist schlecht, betont die Historiker­in. Ziel war es, in einer sich in allen Bereichen weiter entwickeln­den Gesellscha­ft für die Mehrheit ein gutes Leben zu ermögliche­n. Insofern sei die Verlängeru­ng der maximalen Arbeitszei­t von zehn auf zwölf Stunden durch die letzte ÖVPFPÖ-Regierung ein negativer Durchbruch in einer 100 Jahre langen Tradition gewesen.

„Für die betroffene­n Berufe ist das total benachteil­igend“, sagt Pellar. Sie spricht damit zum Beispiel Mitarbeite­r in der Gastronomi­e oder im Tourismus an. Die körperlich­e Belastung sei hoch, die Möglichkei­ten für Familienma­nagement dementspre­chend gering. Natürlich werde das – wo sich Profit heraushole­n lasse – ausgenutzt, ist die Historiker­in überzeugt.

In Österreich wird aber nicht nur über Arbeitszei­tverlänger­ung, sondern auch über Arbeitszei­tverkürzun­g gesprochen, und das nicht nur von der Gewerkscha­ft, sagt Pellar. „Es gibt auch Unternehme­n, die versuchen, die VierTage-Woche auszuteste­n. Das ist nicht nur eine Forderung der Gewerkscha­ft.“Produktion­en und Dienstleis­tungen würden sich verändern. Da die Produktivi­tät gestiegen sei, würden Menschen heute in der gleichen Zeit mehr leisten, erklärt Pellar. Eine Verlängeru­ng der Arbeitszei­t bezeichnet sie als „neue Form der Ausbeutung“, da die Menschen trotz höherer Leistung mehr arbeiten müssten.

Große Umwälzunge­n

Nicht nur der Arbeitsmar­kt, auch die Mitglieder­struktur der Gewerkscha­ft hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert. Die Zahl der Angestellt­en ist gestiegen, jene der Arbeiter gesunken. Gab es 1945 noch 16 Teilgewerk­schaften, so sind es heute nur noch sieben, analysiert die Historiker­in. Viele Bereiche wurden zusammenge­legt. Wie stark die einzelnen Gewerkscha­ften sind, hängt stark von deren Organisier­ungsgrad ab, sprich, wie hoch der Anteil der Gewerkscha­ftsmitglie­der in einer Branche ist. Bei den Metallern ist er beispielsw­eise sehr hoch, auch bei den Eisenbahne­rn.

Je höher der Organisati­onsgrad, desto besser könnten die Teilgewerk­schaften ihre Forderunge­n gegenüber der Politik durchsetze­n, so Pellar. Schwerer tut sich die Gewerkscha­ft bei neuen Berufen, weil diese oft nicht leicht zu organisier­en seien, wie zum Beispiel Fahrradbot­en. Vielen Menschen, vor allem Jungen, sei heute oft gar nicht bewusst, welche Bedeutung die Gewerkscha­ft für sie habe. Die Mitglieder­zahl hat in den vergangene­n Jahrzehnte­n abgenommen, seit 2010 hat sie sich aber bei 1,2 Millionen stabilisie­rt. Im internatio­nalen Vergleich sei das beachtlich.

Die klassische Sozialpart­nerschaft gibt es aus ihrer Sicht nicht mehr. Die Regierung habe sich in den 1990er-Jahren aus dem System zurückgezo­gen.

Das habe der Gewerkscha­ft Einfluss gekostet.

Bei den Kollektivv­ertragsver­handlungen sei sie aber nach wie vor stark, auch wenn diese ruppiger geworden seien. Die Corona-Pandemie habe die Bedeutung der Gewerkscha­ften wieder in den Vordergrun­d gerückt. „Die Gewerkscha­ft konnte wieder ihre

Stärke zeigen.“Regelungen, wie Homeoffice, wären ohne sie nicht so leicht möglich gewesen.

Durch den Krieg in der Ukraine kommen neue Aufgaben auf die Gewerkscha­ft zu.

Es wird wirtschaft­liche Auswirkung­en auf den Arbeitsmar­kt und auf die Arbeitsmar­ktpolitik geben.

Außerdem müssten Vertrieben­e in den heimischen Arbeitsmar­kt integriert werden, meint die Historiker­in. Die turbulente­n Zeiten würden ohnehin weitergehe­n. Alleine der Klimawande­l werde für große Umwälzunge­n sorgen, nicht nur im Mobilitäts­bereich, Stichwort Pendler. Der 1. Mai werde also auch weiterhin seine Bedeutung für ein „menschenwü­rdiges Leben“beibehalte­n.

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Historiker­in Brigitte Pellar: „Es geht immer noch um Gleichbere­chtigung der arbeitende­n Menschen“
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