Dramatisierte Geschichtsstunde
Kritik. „Leopoldstadt“im Theater in der Josefstadt
Alles beginnt im Jahr 1899. Wir sind zu Gast in der Großfamilie des jüdischen Textilfabrikanten Hermann Merz (Herbert Föttinger), wo Weihnachten gefeiert wird. Eine gute Pointe: Ein Kind will den Christbaum mit dem Davidsstern schmücken.
Merz’ Mutter (Marianne Nentwich) möchte die jüdischen Traditionen am Leben erhalten, während er versucht, dem Antisemitismus der Wiener Gesellschaft durch völlige Anpassung zu entkommen. Sein Schwager (Ulrich Reinthaller), der geniale Mathematiker Ludwig Jakobovicz, träumt vom Zionismus und vom gelobten Land.
Zeitgeschichte
Drei Stunden lang begleiten wir diese Familie durch die jüngere österreichische Geschichte: Erster Weltkrieg,
Wirtschaftskrise, Austrofaschismus. Ludwigs Tochter Nellie (Alma Hasun) ist Sozialistin, ihr Mann wird beim Beschuss der Gemeindebauten getötet. 1938 kommen die Nazis. Die Familie verkennt den Ernst der Lage und schafft die Flucht nicht mehr. Die meisten kommen ums Leben.
Man verliert leicht den Überblick über die fast Doderer-artigen (ein gewagter Vergleich) Verzweigungen. Ein Stammbaum im Programmbuch hilft ein wenig – aber immer wieder müssen Figuren erklären, wer sie eigentlich sind. Das bremst die Handlung.
Der berühmte englische Dramatiker Tom Stoppard (Übersetzung: Daniel Kehlmann) hat mit „Leopoldstadt“seine eigene Familiengeschichte aufgearbeitet – und gleichzeitig eine Geschichtsstunde für ein englisches Publikum geschrieben, wohl auch bewusst für die Nachkommen der Vertriebenen.
In Österreich – das Theater in der Josefstadt sicherte sich die deutschsprachige Erstaufführung – hat man bei allem Respekt das Gefühl: Das wissen wir alles. Diesen Stoff haben wir zum Glück schon gelernt.
Andererseits: Sind wir nicht immer noch die Meister der Verdrängung?
Schnitzler
Stoppard hat sich zu Beginn der Geschichte auch als Schnitzler-Epigone versucht: Die Geschichte rund um den
Seitensprung der Fabrikantengattin (Maria Köstlinger) mit einem antisemitischen Offizier ist der einzige Konflikt, der dramatisches Potenzial hat (und eine sehr gute, bittere Pointe abwirft). Leider wird die Geschichte eher beiläufig abgehandelt und ungelenk erzählt.
Das Theater in der Josefstadt bietet eine beeindruckende Ensembleleistung. Gespielt wird sehr gut, manchmal – etwa, wenn Joseph Lorenz einen abgrundtief bösartigen Nazi gibt – stockt einem der Atem. Die Inszenierung von Janusz Kica läuft aber behäbig und langatmig ab, im Stil eines altmodischen Fernsehspiels oder einer gespielten Doku.
Ganz am Ende steht dann ein furchtbares Wort: „Auschwitz“.
Viel Applaus, manche Zuschauer zeigten sich verärgert und gelangweilt, andere schluchzten.