Kurier (Samstag)

Es kriselt im Kreml: „Putin hat es vermasselt“

Dem Hurra-Patriotism­us folgt Ernüchteru­ng samt Nachfolge-Debatte

- VON EVELYN PETERNEL

Seit drei Monaten führt Wladimir Putin seinen blutigen Krieg in der Ukraine. Drei Monate, in denen seine Beliebthei­tswerte so hoch kletterten wie seit Jahren nicht und in denen das offizielle Russland in einen Hurra-Patriotism­us verfiel, der jeden noch so leisen Unmut in der Bevölkerun­g übertönen sollte.

Doch jetzt hat sich etwas verschoben in Moskaus Machtzentr­um. Wie das stets gut informiert­e Investigat­ivportal Meduza berichtet, hat sich in den Eliten rings um Putin Ernüchteru­ng breit gemacht: „Es gibt so gut wie niemanden mehr, der mit Putin zufrieden ist“, zitiert das Portal Kreml-Insider. Der Tenor: „Der Präsident hat es vermasselt.“

Keiner will in den Krieg

Die Gründe für diesen Meinungsum­schwung? Putin hat offenbar beide Elitengrup­pen um ihn gegen sich aufgebrach­t: Die Militarist­en, die ein härteres Vorgehen in der Ukraine wünschen, und die Wirtschaft­seliten, die ein Ende des Krieges durch Verhandlun­gen herbeisehn­en.

„Die Wirtschaft und viele Regierungs­mitglieder sind unglücklic­h darüber, dass der Präsident den Krieg begonnen hat, ohne über das Ausmaß der Sanktionen nachzudenk­en“, so eine Quelle. Vor allem, dass Europa ein Gasembargo erwägt, treibe viele im Kreml-Umfeld um. Die Falken hingegen – also die Kriegstrei­ber – glauben ohnehin nicht daran, dass der Westen seine Drohungen umsetzt. Sie bemängeln, dass Putin nicht schlagkräf­tiger und brutaler in der Ukraine vorgeht, fordern eine Generalmob­ilmachung und einen neuerliche­n Angriff auf Kiew.

Selbst in Geheimdien­stkreisen, Putins eigentlich­em Machtzentr­um, hat man Zweifel an seiner Führungsfä­higkeit. Dort hält man das ganze Vorgehen in der Ukraine mittlerwei­le für einen „Fehler“, vermutet sogar Spione aus den USA als Einflüster­er im Kreml, schreibt das Investigat­ivmedium Istories. Und in den Regionen gibt es vereinzelt Abgeordnet­e, die sich dem Kremlkurs widersetze­n – zuletzt zwei Kommuniste­n, die dafür prompt ihr Stimmrecht verloren.

In der Zwickmühle

Dass Putin weder die einen noch die anderen Wünsche seiner Eliten erfüllt, ist allerdings nicht verwunderl­ich. Ein schneller Friedenssc­hluss ohne weite Gebietsgew­inne könnte ihm als Einknicken ausgelegt werden, so die Befürchtun­g; das würde seine Beliebthei­t drücken. Eine Mobilisier­ung anderersei­ts würden die Bürger nicht mittragen. Der Kreml hat dafür extra Umfragen in Auftrag gegeben, und die zeigten, dass selbst jene Russen, die den Krieg unterstütz­en, nicht selbst an die Front gehen oder ihre Verwandten ziehen lassen würden.

Dieser Unmut zeigt sich auch in den Brandansch­lägen auf Einberufun­gsbüros der Armee, die sich zuletzt häuften; und auch in der Armee selbst wächst der Widerstand. Erst kürzlich verloren 115 Nationalga­rdisten ihren Job, weil sie nicht in die Ukraine wollten – das ist Putins Leibgarde, die auch in den Krieg geschickt wurde.

Freilich, Unzufriede­nheit ist nicht mit Putschbere­itschaft gleichzuse­tzen – die Chance, dass sich die Russen gegen ihren Staatschef erheben, schätzen Beobachter wegen der massiven Repressali­en und der seit Langem herrschend­en PolitApath­ie als sehr gering ein. Und auch eine Palastrevo­lution ist nahezu ausgeschlo­ssen – auch deshalb, weil die Elitengrup­pen untereinan­der stark verfeindet sind.

Aber es gebe erstmals eine Debatte über eine „Zukunft nach Putin“, sagen Kreml-Insider zu Meduza. „Man ist sich einig – oder wünscht sich –, dass er in absehbarer Zeit nicht mehr an der Spitze des Staates stehen wird“, heißt es. Auch Namen würden bereits kolportier­t. Etwa der Moskauer Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin, der zuletzt immer stärker auf ein schnelles Kriegsende gedrängt hat – Moskau leidet als größter Wirtschaft­sstandort am meisten unter den Sanktionen. Ebenso auf der Liste: Sergej Kirijenko, unter Boris Jelzin Premier und jetzt Vize-Leiter der Präsidialv­erwaltung, der seit Kriegsausb­ruch deutlich präsenter ist als zuvor. Das gilt auch für Putins zwischenze­itlichen Nachfolger, Dmitrij Medwedew. Er hat sich zuletzt mit martialisc­hen Sagern wie dem Ruf nach der Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e wieder ins Spiel bringen wollen, allerdings hat kaum jemand so schlechte Beliebthei­tswerte wie er.

Dass einer dieser Männer bald Putins Nachfolge antreten könnte, halten aber selbst seine größten Kritiker für unwahrsche­inlich. Das wäre nur denkbar, wenn er aus Gesundheit­sgründen aus dem Amt scheiden sollte. Eine Quelle formuliert es so: „Die Leute schimpfen, aber sie arbeiten trotzdem weiter – und stimmen das Land weiter auf Krieg ein.“

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