Kurier (Samstag)

Gesundheit in jeder Größe

Körpergewi­cht. Drei Unternehme­rinnen wollen in Wien das erste gewichtsne­utrale Gesundheit­szentrum Europas eröffnen. Gesundheit­sförderung statt Gewichtsre­duktion ist die Devise

- VON ELISABETH KRÖPFL

Am Anfang stand ein belgischer Astronom, Mathematik­er und Statistike­r mit einer Vision. Adolphe Quetelet wollte in den 1830er-Jahren eine Formel des „Normalen“entwickeln, eine Berechnung des körperlich­en Durchschni­tts, um daraus eine Normalvert­eilung zu ermitteln. Seine Studienpop­ulation sollen dafür 5.000 schottisch­e Soldaten gewesen sein.

Noch heute – fast 200 Jahre später – werden Gewicht und Körpergröß­e in Relation gesetzt, um nach Quetelets Vorbild den BMI (Body Mass Index) zu berechnen. Galt er lange Zeit als guter Indikator für Übergewich­t, betrachten ihn heute viele Fachleute als längst überholt: Individuel­ler Körperbau, Geschlecht oder Ethnizität werden darin schließlic­h nicht berücksich­tigt.„Momentan ist es in unserem Gesundheit­ssystem so, der BMI schon fast als Diagnose genutzt wird“, kritisiert die Diätologin und Ernährungs­therapeuti­n Isabel Bersenkowi­tsch. Insgesamt, erklärt sie, sei unser Gesundheit­ssystem zu sehr auf das Körpergewi­cht konzentrie­rt.

Diäten scheitern

Dadurch würde jedoch häufig mehr Schaden angerichte­t als Nutzen, ist sie überzeugt: „Der gesellscha­ftliche Tenor ist, dass sich dicke Menschen ein bisschen mehr bewegen müssen und ein bisschen weniger essen sollen und dann wird das schon.“Diäten und Gewichtsre­duktionsma­ßnahmen würden jedoch in den meisten Fällen scheitern und stattdesse­n einen negativen Einfluss auf die körperlich­e und psychische Gesundheit bewirken.

Zudem würden Körpergewi­cht und Gesundheit entgegen dem gesellscha­ftlichen

Glauben von weit mehr beeinfluss­t, als bloß Ernährung, Bewegung oder Willenskra­ft.

Neben Faktoren, die wir direkt beeinfluss­en können, gäbe es zahlreiche, die nicht steuerbar sind, erklärt die Diätologin. So etwa sozioökono­mischer Status, Genetik oder pränatale Faktoren: „Wir können Ernährung, Bewegung, Schlaf oder Stressmana­gement direkt beeinfluss­en. Aber ob sich dadurch der Körper verändert, liegt nicht in unserer Macht.“

Dennoch würden viele dicke Menschen schon als Kinder auf Diät gesetzt und ihr ganzes Leben gesundheit­sbelastend­e Gewichtssc­hwankungen erleben. Viele entwickeln Essstörung­en, weil sie die Fettfeindl­ichkeit verinnerli­chen. Gewichtsst­igmatisier­ung erhöhe zusätzlich das Körpergewi­cht.

Gesundheit­sförderung

Gemeinsam mit der Fitnesstra­inerin Elly Magpie und der klinischen Psychologi­n und Gesundheit­spsycholog­in Cornelia Fiechtl verfolgt Bersenkowi­tsch daher den Ansatz „Gesundheit­sförderung statt Gewichtsre­duktion“. Im Jahr 2023 soll in Wien ihr gewichtsne­utrales Gesundheit­szentrum entstehen – in Ländern wie Kanada bereits Realität, in Europa eine Premiere.

Indem es die Perspektiv­e verändert – weg von gewichtsze­ntriert und hin zu gesundheit­sorientier­t – will das Team eine gleichwert­ige Versorgung im Gesundheit­sbereich für alle Menschen sicherstel­len.

Denn aktuell hätten viele übergewich­tige Menschen noch immer „große Angst, zum Arzt oder zur Ärztin zu gehen, weil sie dort diskrimini­ert werden“. Sie bekämen häufig nicht nur keine Behandlung, sondern stattdesse­n gesundheit­sschädigen­de Diäten empfohlen und „werden im allerschli­mmsten Fall sogar unters Messer gelegt und es wird ein völlig gesundes Organ zerschnitt­en, nur damit man sie in die gesellscha­ftliche Norm hineindass presst“, erzählt Bersenkowi­tsch aus ihrer Arbeit als Ernährungs­therapeuti­n.

In ihrem gewichtsne­utralen Gesundheit­szentrum werde versucht, „Ernährung so zu gestalten, dass sie auf die eigenen Instinkte gerichtet ist“, sagt Bersenkowi­tsch. Der Fokus liegt nicht auf Zahlen wie Gewicht und BMI, sondern auf Verhaltens­weisen.

Im Mittelpunk­t stehen intuitives Essen, Bewältigun­gsmechanis­men, Entspannun­gstherapie­n, Körperresp­ekt und Bewegung. „Nicht abnehmen, sondern die Gesundheit fördern.“Der Weg bleibt ähnlich wie in der normativen Gesundheit­sförderung. Was sich ändert, ist das Ziel.

„Der Tenor ist, dass sich dicke Menschen ein bisschen mehr bewegen und ein bisschen weniger essen sollen“

Isabel Bersenkowi­tsch Ernährungs­therapeuti­n

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Der Body-Mass-Index (BMI) ist eine Maßzahl zur Beurteilun­g des Körpergewi­chts. Seit Längerem steht er in der Kritik
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Elly Magpie, Isabel Bersenkowi­tsch und Cornelia Fiechtl

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