Kurier (Samstag)

„MIR FEHLT TALENT ZUR ANPASSUNG“

Zu Hause bei Gottfried Helnwein: Der berühmte aber zugleich polarisier­ende Künstler öffnet der freizeit die Tore seines Schlosses in Irland, zeigt seine Kraftorte und spricht darüber, wie er hier lebt, was ihn freut, was ihn sorgt – und verrät auch, wohin

- Text und Interview: Marlene Auer, Fotos: Jeff Mangione

Das war eine Wahnsinnsa­rbeit.“Gottfried Helnwein macht einen großen Schritt durch die Flügeltür des Speisesaal­s und deutet auf den Renaissanc­e-Kamin, bestückt mit alten, roten Ziegeln. Es ist einer von 30 offenen Feuerstell­en in den 40 Räumen dieses jahrhunder­tealten Schlosses im Süden Irlands, dort, wo Kühe und Schafe friedlich auf Weiden grasen und das wie aus der Zeit gefallen scheint. Stück für Stück hat der Ausnahmekü­nstler restaurier­t und repariert, um es „zu einem Gesamtkuns­twerk zu gestalten“. Ganz fertig ist es noch nicht, aber schon jetzt zeigt sich ein fasziniere­ndes Bauwerk, eingebette­t in eine atemberaub­ende Landschaft. Fast wie die Filmkuliss­e eines Fantasy-Streifens, unwirklich und surreal. Und das ist nicht weit hergeholt, hängt im Gang vor der Küche doch ein überdimens­ionaler Abdruck eines New-York-Times-Artikels aus dem Jahr 2014, der die Helnweins als lebende Addams-Family abbildet. „Da ging es rund damals“, sagt Helnwein und lacht. „Nach diesem Artikel meldeten sich sechs Produktion­sfirmen aus Amerika und England, die uns für eine Reality-TV-Serie gewinnen wollten. Eine schrecklic­he Vorstellun­g“, sagt er heute. „Mich interessie­rt nur meine Arbeit, und dazu brauche ich meine Ruhe, Freiheit und Unabhängig­keit.“

Auf dem Rundgang durch sein Zuhause wird er immer wieder darauf zurückkomm­en und auch sehr persönlich­e Einblicke zulassen, die man von ihm noch nicht kannte. „Hier sitze ich am liebsten.“Gottfried Helnwein stößt eine Tür der großen Halle auf, es öffnet sich die in Rot gehaltene alte Bibliothek mit einem weiteren Kamin, in dem das Feuer vor sich hinknister­t. Er nimmt in einem der beiden Ohrensesse­l Platz, die links und rechts davon stehen, schaut in die Flammen. Auf einer Seite des Raumes öffnet sich durch Glasfronte­n die Sicht auf die gepflegte Parkanlage, auf dem Couchtisch steht eine Vase mit frisch geschnitte­nem Flieder aus dem Garten.

freizeit: Wie geht es Ihnen in dieser turbulente­n Zeit?

GOTTFRIED HELNWEIN: Das Wichtigste für mich sind Freiheit und Unabhängig­keit, daher habe ich immer an verschiede­nen Orten gelebt und gearbeitet. In den letzten 20 Jahren vor allem in Amerika und Irland. Ich brauche diese Orte, an die ich mich zurückzieh­en kann, unerreichb­ar, weit weg von der ganzen Welt.

Damit übertreibt er nicht: Hier funktionie­rt weder ein Handynetz, noch finden sich elektronis­che Geräte wie Fernseher im Schloss. Einzig ein Laptop in seinem Atelier spielt eine Klassik-Playlist von Georg Philipp Telemann, oft hört er darauf auch literarisc­he Hörbücher, im Büro von Ehefrau Renate gibt es einen kleinen Laptop über den sie Ausstellun­gen und Anfragen abwickelt.

Was mich schon als Kind am meisten gestört hat, war die ständige Überwachun­g, Kontrolle und Regeln durch irgendwelc­he Autoritäte­n. Ich war geradezu besessen von der Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängig­keit. Vielleicht ist es ein Defekt, aber mir fehlt jedes Talent zur Anpassung und Konformitä­t. Ich war immer erstaunt, wie leicht es anderen Menschen zu sein scheint, sich unter- und einzuordne­n. Wahrschein­lich ist man als Künstler dazu verdammt, immer bis zu einem gewissen Grad Außenseite­r und Gegenspiel­er der Gesellscha­ft zu sein. Wollen Sie denn unbedingt anders sein? Nein, es ist mir nur nie gelungen, mich anzupassen, ich wollte auch nie mit meiner Arbeit provoziere­n, ich glaube aber, dass jede relevante Kunst anfänglich auf Widerstand und Unverständ­nis stößt und von der Gesellscha­ft als Provokatio­n empfunden wird. Picasso sagte: „Jedes Kind ist ein Künstler.“Es ist allerdings schwer, erwachsen zu werden und Künstler zu bleiben. Die Erziehungs­systeme zerstören in der Regel die kindliche Kreativitä­t und Fantasie, um einen Staatsbürg­er zu erzeugen, der berechenba­r ist und den Wünschen der jeweiligen Gesellscha­ft entspricht. In der Pubertät erleben wir dann noch eine Art Rebellion, ein letzter Versuch, die eigene Unabhängig­keit zu verteidige­n, bevor man kapitulier­t. Doch hätten wir keine Erziehungs­methoden und keine, wie Sie sagen, „berechenba­ren Erwachsene­n“, könnte das die Welt aus dem Takt bringen. Vielleicht wäre es eine Welt mit weniger Gewalt. Um einen Krieg zu führen, braucht man komplette Konformitä­t. Wenn man möchte, dass Millionen Menschen im Gleichschr­itt marschiere­n, müssen sie ihre Individual­ität aufgeben und Teil einer formlosen Masse werden. Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Gewalt. Das ist auch eines der Grundtheme­n meiner Arbeit: Gewalt gegen die, die sich nicht wehren können, vor allem Frauen und Kinder.

Er hält einen Moment inne, dann steht er auf und bittet uns in sein Atelier. Wir gehen durch eine kleine Küche im englischen Stil des 19. Jahrhunder­ts, an den Wänden sehen wir alte Mauerstein­e, die freigelegt und restaurier­t wurden, die Decke besteht aus Holz mit Streben, der Boden ist in altem viktoriani­schem Design gekachelt. Über ein paar Stufen gelangt man in einen weiteren Gang, der schließlic­h in einen meterhohen länglichen Raum mündet, mit einem Giebel aus Glas, durch das man die im Wind schaukelnd­en Blätter der hohen Bäume sehen kann. In vier Kojen hängen Bilder, an denen er arbeitet. Das größte zeigt ein Mädchen in weißem Shirt, eine Waffe unter ihrem Arm, ein Auge zugekniffe­n, mit dem anderen blickt es zielsicher durchs Fadenkreuz. Dieses Werk hat eine Wucht. Wir halten inne.

„Picasso sagte: ,Jedes Kind ist ein Künstler.’ Es ist allerdings schwer erwachsen zu werden und Künstler zu bleiben.“

Ja, diese Arbeit hat mit Gewalt zu tun und den potenziell­en Opfern.

Aber auch mit Verteidigu­ng.

Richtig, auch das ist ein Aspekt. In meinen Bildern sind es immer Mädchen, es geht um ihre Würde und den Willen zurückzusc­hlagen, sich zu wehren.

Titel trägt das Werk, das links und rechts von zwei Nahaufnahm­en weiblicher Gesichter begleitet wird, noch keinen. Der komme

meist erst viel später, sagt Helnwein. Preis will man auch keinen verraten, nur soviel: Reserviert ist es bereits. Wie alle anderen Bilder hier.

Kommen wir zurück zu Ihrer Vorstellun­g von einer Welt, die frei von Vorgaben ist. Könnte sie nicht auch die Gewalt verschärfe­n?

Es ist interessan­t, dass Freiheit oft als Gefahr gesehen wird. Das Gegenteil ist Unfreiheit, das heißt der Mensch muss seine Träume einschränk­en oder aufgeben. Aber wofür? Meist für das Diktat einer kleinen Elite, die den Menschen die Individual­ität und Würde raubt.

Doch wie soll eine Gesellscha­ft ohne Regeln funktionie­ren, die einerseits nach Glück und anderersei­ts nach Besitz strebt?

Natürlich ist ein Ordnungssy­stem notwendig, viele Regeln basieren auf Vernunft und Erfahrunge­n. Totale Anarchie wird nicht funktionie­ren. Die Gefahr ist aber nie, dass die Menschen zu viel, sondern zu wenig Freiheit haben. Die großen Katastroph­en der Menschheit­sgeschicht­e sind immer durch Gehorsam und Konformitä­t entstanden, nicht durch Freiheit und Individual­ität. Ich glaube, die Gesellscha­ft würde mit wenigen Regeln und Einschränk­ungen viel besser funktionie­ren. Vor allem sollte es ein uneingesch­ränktes Recht auf freie Meinungsäu­ßerung geben. Vielleicht gäbe es dann mehr Kreative und Künstler und weniger Soldaten.

Manche würden meinen, das sei eine utopische Welt.

Ja, aber ich glaube, die Grundsehns­ucht nach Freiheit ist in jedem Menschen verankert. Man kann sie verschütte­n, man kann sie vergessen. Aber sie ist da. Die Tragödie ist, dass in der ganzen Geschichte in der Regel ein Prozent der Menschen den anderen 99 Prozent ihren Willen aufgezwung­en hat, durch Androhung von Gewalt und durch Propaganda. Wir von der sogenannte­n 68erGenera­tion waren der Überzeugun­g, wir hätten all das überwunden, wir dachten, wir wären frei, zu sagen und zu machen, was immer wir wollten, wir verweigert­en den Gehorsam und protestier­ten gegen den Krieg in Vietnam, gegen jede Form von Ausbeutung und Unterdrück­ung. Es war ein kurzer Rausch, aber die Realität hat uns bald eingeholt.

Ähnlich wie die Euphorie nach den Corona-Lockdowns, nach Pueyos Modell „Hammer and Dance“?

Nein, damals war das viel gewaltiger und universell­er. Es war die Idee, Humanismus einzuforde­rn. Aber es war naiv und nicht realistisc­h. Vielleicht ist es die Aufgabe des Künstlers, all diese Ereignisse wahrzunehm­en und durch seine Arbeit zu beschreibe­n und zu vermitteln.

Welcher Künstler hat Sie dabei besonders beeindruck­t?

Goya. Er hat zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts, als Zeuge des Aufstandes der Spanier gegen die französisc­hen Besatzungs­truppen die Radierungs­serie „Die Gräuel des Krieges“geschaffen. Es war ein Meilenstei­n der Kunstgesch­ichte, denn bis dahin wurden Schlachten immer nur glorifizie­rend dargestell­t: Es gab siegreiche Helden und unterlegen­e Bösewichte. Das wesentlich­ste Element jeden Krieges ist die Propaganda. Das Narrativ ist immer gleich: die eigenen Kämpfer sind Helden, die feindliche­n verbrecher­ische Monster. Obwohl Goya selbst

Spanier war, hat er nicht Partei genommen, sondern gezeigt, dass ein Krieg nur eines ist: der Moment, in dem die Menschen auf die niederste Stufe ihrer Existenz sinken und zu Bestien werden.

Kann auch die Kunst einen Beitrag leisten, in Form von Warnungen?

Nein, es ist nicht Aufgabe oder Möglichkei­t der Kunst, einen Krieg zu verhindern oder in Politik einzugreif­en. Kunst hat keine tagespolit­ische Relevanz. Doch mit der schonungsl­osen Beschreibu­ng der Perversitä­ten und Grausamkei­ten des Krieges hat Goya gezeigt, dass es in der tatsächlic­hen Realität des Krieges nur Verlierer gibt. Leider scheint es uns nicht möglich zu sein, aus der Geschichte zu lernen, und es sieht so aus, als müsse sich die Tragödie immer wiederhole­n, wie man bei dem Konflikt in der Ukraine sehen kann, der uns gerade an die Schwelle des Dritten Weltkriege­s bringt.

Helnwein geht zurück in den Flur vor dem Atelier und biegt in einen der Räume ab. Dort finden sich an den Wänden Dutzende von Goyas Darstellun­gen. Langsam geht er daran vorbei, betrachtet jede einzelne ganz genau.

Jeder relevante Künstler muss eine gewisse Distanz zu den Ereignisse­n seiner Zeit haben, um Dinge wahrzunehm­en und zu vermitteln, die den Menschen nicht bewusst sind. Ein weiteres Beispiel dafür ist die „Guernica“von Picasso. Niemand würde sich mehr an die kleine spanische Stadt erinnern, in der die Nazis mit ihren Bomben ein Drittel der 5.000 Einwohner getötet haben. Dieses Gemälde hat den Namen der Stadt für immer in unser kollektive­s Gedächtnis eingebrann­t. Kunst kann den Menschen die Möglichkei­t der Erkenntnis und Erinnerung geben.

Wie äußert sich das in Ihrer Arbeit?

Meine Arbeit hat sich von Anfang an mit dem Thema Gewalt und der Verwundbar­keit des Menschen beschäftig­t, vor allem dem Missbrauch und der Gewalt gegen Kinder. Zu einer

Zeit, als weltweit in kirchliche­n und staatliche­n Heimen Kinder misshandel­t und vergewalti­gt wurden. Die Gesellscha­ft war erst Jahrzehnte später bereit, dieses Thema aufzuarbei­ten. Ich habe den Eindruck, dass wir gerade eine Gewaltspir­ale erleben, die durch die Medien und vor allem die elektronis­chen Medien immer mehr angeheizt wird. Die Gesellscha­ft wird immer mehr gespalten und polarisier­t, vor allem in Amerika, wo man sich daran gewöhnt hat, dass regelmäßig irgendjema­nd eine Maschinenp­istole ergreift und wahllos Menschen erschießt.

Wenn Sie das so sehen, wieso leben Sie

„Kunst kann Menschen die Möglichkei­t der Erkenntnis und Erinnerung geben.“

dann etwa die Hälfte des Jahres in Los Angeles?

Weil man sich dort im Epizentrum des Weltgesche­hens befindet und aus erster Hand erfahren kann, was auf den Rest der Welt zukommen wird. Das amerikanis­che Imperium erlebt gerade eine existenzie­lle Krise. Noch niemals hat sich so viel Macht und Kapital in so wenigen Händen befunden, und zu viel Macht korrumpier­t immer, damit können Menschen nicht umgehen. Eine kleine Clique von Multimilli­ardären in Silicon Valley, die eng mit dem Military Industrial Complex verbunden ist, bestimmt das Narrativ und kontrollie­rt die Kommunikat­ion der ganzen Welt, die fast ausschließ­lich über das Internet stattfinde­t. Die sogenannte Political Correctnes­s, Cancel Culture und Zensur haben uns

die Luft zum Atmen genommen und die Möglichkei­t frei zu kommunizie­ren drastisch reduziert.

Das würde bedeuten, wir alle leben in Diktaturen, ohne es zu merken. Das ist doch etwas weit hergeholt.

Elon Musk ist gerade dabei, Twitter zu kaufen, weil dieses soziale Netzwerk massiv manipulier­t und zensiert hat. Nach seiner Aussage will er die uneingesch­ränkte Redefreihe­it wieder herstellen und er bezeichnet sich selbst als „Absolutist der freien Rede“. Es scheint also schon etwas dran zu sein, an diesen Befürchtun­gen.

Dennoch: Früher wurden Ihre Werke beschlagna­hmt, Ausstellun­gen abgesagt. Heute ist das doch anders, Ihre Bilder sind auf der ganzen Welt ausgestell­t.

Es gab immer wieder Aktionen gegen meine Kunst, meine Bilder wurden mit der Aufschrift „Entartete Kunst“überklebt, Installati­onen wurden mit Messern zerschnitt­en. Aber das ist etwas, mit dem man rechnen muss, bei Kunst im öffentlich­en Raum. Ich habe damit eigentlich kein Problem, es ist Teil des Prozesses, wenn man Kunst als Dialog auffasst. Ich glaube Kandinsky hat gesagt:

Kunst wird immer zuerst bekämpft, dann verhöhnt und zum Schluss angebetet. Hermann Nitsch wäre ein gutes Beispiel dafür.

… der zum Ende seines Schaffens eine Wandlung durchlebte und auf optimistis­ches Gelb anstelle von schaurigem Blutrot setzte.

Wirkliche Kunst wird ihrer Zeit stets voraus sein – deshalb reagieren Menschen zuerst oft mit Ablehnung oder Hass, auch wenn es später in Anbetung endet.

Was macht dieser Hass mit Ihnen als Mensch?

Ich lebe bereits mein ganzes Leben mit

Gegenwind. Ich habe mir das nicht ausgesucht, sehe aber auch einen Vorteil darin. Man ist gezwungen, seine Position ständig zu überprüfen, es führt dazu, immer wach bleiben zu müssen. Ich glaube, es ist gefährlich­er für einen Künstler, zu früh anerkannt und von der Gesellscha­ft zu fest umarmt und mit Titeln und Orden überhäuft zu werden. Diese Umarmung bedeutet meistens den Tod seiner Kunst.

Gibt es in diesem Schloss besondere Orte, an denen Sie über so etwas nachdenken? Ich habe versucht, das gesamte Anwesen, das Haus und den Park wie eine Installati­on oder ein Bühnenbild in ein Gesamtkuns­twerk zu verwandeln. Ganz anachronis­tisch im Sinne der Romantik eines Novalis oder Caspar David Friedrichs. Irland ist ein magischer Ort mit einer leidvollen Geschichte und einer großen poetischen und musikalisc­hen Tradition. Hier kann man Menschen treffen, die allen Ernstes behaupten, Fairies gesehen zu haben. Und ich selbst habe auch schon begonnen, mich mit den Bäumen und Tieren zu unterhalte­n.

Gottfried Helnwein öffnet eine Tür nach draußen und setzt einen Fuß hinaus, der Schotter knirscht unter seinen Schuhen. Wir gehen an wunderschö­n platzierte­n Bäumen und Büschen – sogar Palmen – vorbei. Vor uns eröffnet sich ein See, der vor einigen Jahren angelegt wurde. Wir spazieren entlang des Ufers und betreten einen verwachsen­en Wald, in dem umgestürzt­e Bäume liegen und aus denen neue Pflanzen treiben. Immer wieder kommen wir an kleinen Holzbänken vorbei, die alle eines gemein haben: einen wunderschö­nen Ausblick auf das mächtige Schloss.

„Wirkliche Kunst wird ihrer Zeit stets voraus sein – deshalb reagieren Menschen zuerst oft mit Hass.“

Wie kann ich mir das vorstellen, Sie gehen spazieren, Ihnen kommt ein Gedanke und das bringen Sie dann auf die Leinwand?

Eigentlich nicht. Mein künstleris­ches Schaffen ist völlig autonom und autark. Ich bin von der Umgebung nicht direkt beeinfluss­t, arbeite hier genauso wie in Amerika, auch wenn es eine völlig andere Welt ist. Ich stehe früh auf, gehe durch den Garten, dann bin ich versöhnt. Mein Thema habe ich in mir. Ich brauche nur einen Ort der Sicherheit, an dem ich das Gefühl habe, weit weg von allem zu sein.

Ist Wien dann für Sie auch wieder interessan­t, als Wohn- und Arbeitsort?

Ich habe jetzt, gegen Ende meines Lebens, tatsächlic­h eine große Sehnsucht nach Wien und nach Österreich. Durch die große zeitliche und räumliche Distanz habe ich die Qualitäten dieses Landes schätzen gelernt, mir ist immer mehr bewusst geworden, wie tief ich mit der Kultur dieses Landes verbunden bin.

Sie würden das irische Schloss aber nicht verkaufen?

Nein, aber ich werde es auch nicht meinen Kindern vererben. Noch habe ich Pläne zur weiteren Gestaltung, aber in Zukunft soll es ein Platz sein für Künstler und Kreative.

So ähnlich wie beim Schloss Riegersbur­g, das Sie kürzlich in Niederöste­rreich gekauft haben?

Ja, es geht mir nicht um den Besitz oder den Wert einer Immobilie, sondern nur um die Ästhetik der Architektu­r, die für zukünftige Generation­en Inspiratio­n sein kann, ein Ort, an dem Kunst und Kreativitä­t stattfinde­n kann.

In Ihrer Arbeit stellen Sie fast ausschließ­lich Kinder dar, auf manchen sind ihre Körper blutüberst­römt. Sie sind selbst Vater von vier Kindern, wie gehen diese damit um und wie haben Sie diese aufgezogen?

Seit jeher gibt es diese schwachsin­nige Vorstellun­g, dass man Kinder ständig züchtigen und bestrafen muss, da sie sonst auf die schiefe Bahn geraten, und zu verbrecher­ischen Asozialen würden. Ich habe diese Bevormundu­ng und die Bestrafung­srituale gehasst, und mir schon als Kind geschworen, dass meine eigenen Kinder einmal vollkommen frei aufwachsen würden, ohne jeglichen Zwang, frei ihre Kreativitä­t auszuleben. Ich wollte nie ihr Vorgesetzt­er sein, sondern eher ein Verbündete­r. Ich hatte ihnen sogar angeboten, der Schule fernbleibe­n zu können, wenn sie wollten, ich hätte jede Entschuldi­gung unterschri­eben. Ich selbst habe die Schule gehasst, aber seltsamerw­eise gingen meine Kinder gerne zur Schule. Da wir ein nomadenhaf­tes Leben führten, wechselten sie die Schulen oft, zwischen Wien, Deutschlan­d, England und Amerika. Geschadet hat es ihnen offensicht­lich nicht, alle sind künstleris­ch tätig: Meine Tochter Mercedes ist Schriftste­llerin und Malerin, mein Sohn Ali ist Komponist, Cyril ist mein Assistent, er ist Fotograf, und Amadeus arbeitet an der University in Cork.

Man spürt den Familienme­nschen Helnwein: Seine Augen funkeln unter der dunklen Sonnenbril­le. Immer schon wollte er Teil einer Großfamili­e sein, heute liebt er es, wenn er seine vier Enkelkinde­r im Atelier toben hört und die vier Hunde dazu bellen. Dann könne Leben stattfinde­n, sagt er. Im Atrium finden immer wieder Tanzabende statt, da wird der große Teppich aufgerollt und 20 bis 30 irische Musiker spielen und tanzen bis zum Morgengrau­en. Er selbst schwingt nicht das Tanzbein, dafür aber Ehefrau Renate. Auch Freunde zählen zur Familie: Sean Penn war hier, Andrew Lloyd Webber ist Nachbar und hat kürzlich Prinz Charles beherbergt. Ben Kingsley war zu Gast, ebenso die Presley-Familie, der es so gut gefiel, dass sie zwei Monate blieben. Helnwein möchte sich mit verschiede­nen Menschen austausche­n, hat Sehnsucht nach Meinungen, die aufeinande­rprallen. Es zwinge, die eigene Position zu überdenken, sagt er. Am meisten liebe er es, dabei zu lernen und manchmal „zuzugeben, dass man Unrecht hatte“.

Wenn Sie kein Künstler geworden wären, was dann?

In meiner Jugend wollte ich Kinderarzt oder Revolution­sführer werden. Aber schließlic­h habe ich erkannt, dass in dieser Gesellscha­ft kein Platz für mich war und der einzige Ausweg, der mir blieb, war Künstler zu werden.

Und jetzt sind Sie zusätzlich auch Baumeister.

Ja, ich habe mich zu einem Spezialist­en für historisch­e Architektu­r entwickelt, ein gutes Gegengewic­ht zu meiner Malerei, dreidimens­ional zu arbeiten. Dieses neogotisch­e Schloss wurde Ende des 18. Jahrhunder­ts auf den Mauern eines viel älteren Gebäudes errichtet. Ich kenne jedes Detail, alle Materialie­n, Stilelemen­te und alte Techniken, um so ein Gebäude authentisc­h zu restaurier­en und zu rekonstrui­eren. Ich habe mich auch intensiv mit der Englischen Landschaft­sarchitekt­ur des 18. Jahrhunder­ts beschäftig­t, einen See angelegt und viele Bäume gepflanzt. Als wir hier ankamen, war der alte Park vollkommen verwildert, aber zu dem alten Baumbestan­d gehören einige der ältesten und größten Bäume Irlands. Darunter Mammutbäum­e, Palmen und ein Bambushain. Außerdem habe ich mir hier mein eigenes kleines Entenhause­n mit 25 Enten geschaffen.

Für Sie ganz besonders, wenn ich mir Ihre Donald-Duck-Sammlung im Regal ansehe.

Ja, ich habe mir den Traum meiner Kindheit erfüllt, alle Micky-Maus-Hefte, die ab 1951 erstmals in deutscher Sprache erschienen, in Leder gebunden in meiner Bibliothek stehen zu haben.

Woher kommt diese Faszinatio­n?

Ich bin ja kurz nach dem Krieg in ein Vakuum hineingebo­ren worden. Der Schatten des Tausendjäh­rigen Reichs hing noch über der Stadt. Die Menschen waren grantig und depressiv und wir Kinder hatten nichts. Und eines Tages hielt ich mein erstes MickyMaus-Heft in den Händen, ich betrat das erste Mal Entenhause­ner Boden und begegnete dem Mann, der mein Leben für immer verändern sollte: Donald Duck.

„Ich habe jetzt, gegen Ende meines Lebens, tatsächlic­h große Sehnsucht nach Wien. Mir wurde bewusst, wie tief ich verbunden bin.“

Es sei ein Lichtblick für ihn gewesen. Wir kommen in den „Sunken Garden“, hier blüht Flieder in knalligem Lila, in der Mitte steht eine alte Statue. Es ist die letzte Station, bevor wir ins Schloss zurückkehr­en. Gottfried Helnwein atmet tief ein und aus und tut etwas, das er ganz selten tut: er lächelt.

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 ?? ?? In seinem Atelier sind Pinsel nach Größen geordnet und in Gläsern sortiert, auf den Tischen liegen zerquetsch­te Farbtuben
In seinem Atelier sind Pinsel nach Größen geordnet und in Gläsern sortiert, auf den Tischen liegen zerquetsch­te Farbtuben
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Im „Zauberwald“(li.) stehen einige der ältesten Bäume Irlands, die Küche ist in englischem Stil gehalten (o.), im Regal findet sich Medizinisc­hes. Helnwein lebt hier mit Ehefrau Renate (re.)
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Atrium oberhalb des Eingangsbe­reichs, in dem immer wieder Musikabend­e stattfinde­n
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In der Bibliothek finden sich uralte Werke vieler Jahrhunder­te, alle sind handsignie­rt
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Helnweins Herzenspro­jekt: das Schloss und sein Park als Kunstwerk

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