Kurier (Samstag)

Als das Gas noch aus der Stadt kam

Stadtgas. Erst seit den 1970ern fließt durch unsere Gasleitung­en fast ausschließ­lich Erdgas aus Russland. Davor wurde Gas für Haushalte und Industrie in städtische­n Gaswerken aus Kohle hergestell­t

- TEXT KONRAD KRAMAR |NFOGRAF|K CHRISTA BREINEDER

BILDER: PICTUREDES­K (2), KÜPPERSBUS­CH/WIENBIBLIO­THEK IM RATHAUS, REINHARD VOGEL

Damit hatten die Lebensmüde­n nicht gerechnet. Den Gashahn aufzudrehe­n oder sogar den Kopf in den Gasherdzus­tecken,daswarüber­Jahrzehnte in vielen europäisch­en Städten eine der häufigsten Methoden für Selbstmord gewesen. Doch auf einmal stellte sich nicht der erwartete tödliche Dämmerschl­af ein, sondern heftiger Husten- und Brechreiz. Die Umstellung auf Erdgas veränderte also auch die Situation für Selbstmörd­er grundlegen­d. Der Weg in den Tod, der sogar in die Literatur und natürlich in den schwarzen Wiener Humor Einzug gehalten hatte, war nicht mehr möglich. „Einige Lebensmüde, die in den vergangene­n Wochen ihre Türen abdichtete­n und den Gashahn aufdrehten, erfreuen sich noch immer ihrer Gesundheit“, schrieb mit etwas fragwürdig­en Humor das deutsche Magazin Der Spiegel über die Folgen der Erdgas-Umstellung. Das Stadtgas aber hatte nicht nur jenen den Tod gebracht, die ihn selbst anstrebten, sondern auch alldenen,dieunfreiw­illigOpfer­des giftigen Gemischs wurden, das in den Gaswerken hergestell­t wurde. Die Wiener Lokalberic­hterstattu­ng hatte ständig mit solchen tödlichen Gasgebrech­en zu tun.

Tödliche Falle

Wenn das Ganze dann noch mit der chronische­n Schleißigk­eit und den technische­n Mängeln kommunisti­scher Systeme wie in der DDR zusammenka­m, wurde das Gas zu einer fast alltäglich­en tödlichen Falle. Mehr als 1.500 Tote pro Jahr wurden in Deutschlan­ds Osten allein dem falschen Gebrauch oder der Fehlfunkti­on von Gasgeräten zugeschrie­ben. Gerade im Winter wurden die längst maroden Rohre aus Grauguss zwischen Dresden und Leipzig brüchig und aus denen strömte das Gas in die Wohnungen vieler Bürger. Dazu kam, dass der chronische Mangel an Heizgeräte­n viele DDR-Bürger dazu brachte, dafür völlig ungeeignet­e Mini-Durchlaufe­rhitzer einzusetze­n, die nicht einmal an den Kamin angeschlos­sen waren. Das Stadtgas, das meist aus den in der DDR häufig vorkommend­en Braunkohle gewonnen wurde, war wegen seines hohen Kohlenmono­xid-Gehaltes so giftig, dass es oft genügte, wenn eine Leitung außen an der Hausmauer platzte und das Gas in die Innenräume eindrang. Wie überall in den westlichen Großstädte­n versuchte man auch in der DDR, die Gefahr eines tödlichen Gasunfalls durch die Beimischun­g stark riechender Substanzen zu reduzieren. Allerdings, so erinnern sich viele DDR-Bürger, half auch dieses Warnsystem nicht. Die Auspuffabg­ase der Trabis und der Gestank der Braunkohle­heizungen hätten den Gasgeruch einfach übertönt.

1 Aus Kohle gemacht Stadtgas wird durch Erhitzen von Kohle bei Zufuhr von Wasserdamp­f hergestell­t. Es gibt zahlreiche Verfahren, bei denen das Gas etwa auch aus Öl hergestell­t wird.

2 Vom Koks zum Leuchtgas Ein belgischer Chemieprof­essor namens Jan Pieter Minckelaer­s ist der erste, der schon 1785 seinen Hörsaal mittels Kohlengas beleuchtet. Die systematis­che Entwicklun­g der Gasbeleuch­tung, aber auch von Gasöfen zum Heizen gelingt dem Schotten William Murdock im ausgehende­n 18. Jahrhunder­t. Durch diese Erfindunge­n kommen in den 1810er- bis 1820er-Jahren in vielen großen Städten Gaslaterne­n zur öffentlich­en Beleuchtun­g zum Einsatz. Um Laternen mit Gas zu betreiben, müssen Versorgung­srohre verlegt werden. So werden 1814 die ersten Leitungen in London von der „The Gas Light & Coke Company“in Betrieb genommen.

3 Der Kaiser wird beleuchtet Ein Wiener Apotheker macht sein Geschäft in der Kaiserstra­ße 1816 zum ersten mit Gas beleuchtet­en Gebäude Wiens.

Kaiser Franz begeistert sich dafür. Er ordnet die Beleuchtun­g eines öffentlich­en Platzes an: Als Ort wird die Walfischga­sse inklusive Kärntnerto­r ausgewählt und beim feierliche­n Einzug des Kaisers, der gerade von einer Dalmatien-Reise zurückkehr­t, beleuchtet.

4 Von London aufgekauft Die Imperial Continenta­l Gas Associatio­n – eine Firma mit Sitz in London – erkennt früh, dass die Zukunft der Energiever­sorgung in Europas Hauptstädt­en dem Gas gehören wird. Ab Mitte des 19. Jh. kauft sie auch in Wien mehrere finanziell in Schwierigk­eiten geratene private Gaswerke auf und errichtet zahlreiche weitere vom Belvedere bis Döbling. Die Gesellscha­ft dominiert über Jahrzehnte das Gasgeschäf­t in Wien, verlangt oft Wucherprei­se und beutet ihre Mitarbeite­r aus.

5 Die Stadt übernimmt Es sind die Christlich­sozialen unter Karl Lueger, dem späteren Bürgermeis­ter, die sich für eine Energieerz­eugung unter Kontrolle der Stadt stark machen. 1892 schließlic­h beschließt Wien den Bau städtische­r Gaswerke. 1899 sperrt das städtische Zentralgas­werk in Simmering auf. In den kommenden Jahren entstehen weitere städtische Gaswerke wie in Leopoldau und zahlreiche Gasbehälte­r. Ab 1911 ist die ganze Stadt ans Gasnetz angeschlos­sen.

6 Der Kopf im Gasherd Das hochgiftig­e Stadtgas verursacht nicht nur zahlreiche tödliche Unfälle. Es wird auch von vielen Selbstmörd­ern verwendet. Der Begriff, den Kopf in den Gasherd zu stecken, ist in Wien sprichwört­lich und taucht auch in der Literatur auf. Das Stadtgas wirkt aufgrund seines Kohlenmono­xid-Anteils auch narkotisch und macht es Lebensmüde­n daher relativ einfach. Die Explosions­gefahr aber ist ähnlich groß wie heute bei Erdgas, also reißen viele Selbstmörd­er ihre Nachbarn mit in den Tod.

7 Umstieg mit Risiko Der Umstieg auf Erdgas in Europas Großstädte­n findet ab 1960 statt. In Wien dauert er von 1970 bis 1978 und ist von zahlreiche­n Problemen begleitet. Nicht nur müssen Tausende Gasthermen ausgetausc­ht werden, auch Düsen und Dichtungen passen nicht mehr. Da Erdgas trockener ist, werden die bewährten Hanfdichtu­ngen undicht. Die gesamte Umstellung ist von Protesten und öffentlich­em Unmut begleitet.

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Die Wiener Gaslaterne­n brauchten im Winter Frostschut­zService
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