Als das Gas noch aus der Stadt kam
Stadtgas. Erst seit den 1970ern fließt durch unsere Gasleitungen fast ausschließlich Erdgas aus Russland. Davor wurde Gas für Haushalte und Industrie in städtischen Gaswerken aus Kohle hergestellt
BILDER: PICTUREDESK (2), KÜPPERSBUSCH/WIENBIBLIOTHEK IM RATHAUS, REINHARD VOGEL
Damit hatten die Lebensmüden nicht gerechnet. Den Gashahn aufzudrehen oder sogar den Kopf in den Gasherdzustecken,daswarüberJahrzehnte in vielen europäischen Städten eine der häufigsten Methoden für Selbstmord gewesen. Doch auf einmal stellte sich nicht der erwartete tödliche Dämmerschlaf ein, sondern heftiger Husten- und Brechreiz. Die Umstellung auf Erdgas veränderte also auch die Situation für Selbstmörder grundlegend. Der Weg in den Tod, der sogar in die Literatur und natürlich in den schwarzen Wiener Humor Einzug gehalten hatte, war nicht mehr möglich. „Einige Lebensmüde, die in den vergangenen Wochen ihre Türen abdichteten und den Gashahn aufdrehten, erfreuen sich noch immer ihrer Gesundheit“, schrieb mit etwas fragwürdigen Humor das deutsche Magazin Der Spiegel über die Folgen der Erdgas-Umstellung. Das Stadtgas aber hatte nicht nur jenen den Tod gebracht, die ihn selbst anstrebten, sondern auch alldenen,dieunfreiwilligOpferdes giftigen Gemischs wurden, das in den Gaswerken hergestellt wurde. Die Wiener Lokalberichterstattung hatte ständig mit solchen tödlichen Gasgebrechen zu tun.
Tödliche Falle
Wenn das Ganze dann noch mit der chronischen Schleißigkeit und den technischen Mängeln kommunistischer Systeme wie in der DDR zusammenkam, wurde das Gas zu einer fast alltäglichen tödlichen Falle. Mehr als 1.500 Tote pro Jahr wurden in Deutschlands Osten allein dem falschen Gebrauch oder der Fehlfunktion von Gasgeräten zugeschrieben. Gerade im Winter wurden die längst maroden Rohre aus Grauguss zwischen Dresden und Leipzig brüchig und aus denen strömte das Gas in die Wohnungen vieler Bürger. Dazu kam, dass der chronische Mangel an Heizgeräten viele DDR-Bürger dazu brachte, dafür völlig ungeeignete Mini-Durchlauferhitzer einzusetzen, die nicht einmal an den Kamin angeschlossen waren. Das Stadtgas, das meist aus den in der DDR häufig vorkommenden Braunkohle gewonnen wurde, war wegen seines hohen Kohlenmonoxid-Gehaltes so giftig, dass es oft genügte, wenn eine Leitung außen an der Hausmauer platzte und das Gas in die Innenräume eindrang. Wie überall in den westlichen Großstädten versuchte man auch in der DDR, die Gefahr eines tödlichen Gasunfalls durch die Beimischung stark riechender Substanzen zu reduzieren. Allerdings, so erinnern sich viele DDR-Bürger, half auch dieses Warnsystem nicht. Die Auspuffabgase der Trabis und der Gestank der Braunkohleheizungen hätten den Gasgeruch einfach übertönt.
1 Aus Kohle gemacht Stadtgas wird durch Erhitzen von Kohle bei Zufuhr von Wasserdampf hergestellt. Es gibt zahlreiche Verfahren, bei denen das Gas etwa auch aus Öl hergestellt wird.
2 Vom Koks zum Leuchtgas Ein belgischer Chemieprofessor namens Jan Pieter Minckelaers ist der erste, der schon 1785 seinen Hörsaal mittels Kohlengas beleuchtet. Die systematische Entwicklung der Gasbeleuchtung, aber auch von Gasöfen zum Heizen gelingt dem Schotten William Murdock im ausgehenden 18. Jahrhundert. Durch diese Erfindungen kommen in den 1810er- bis 1820er-Jahren in vielen großen Städten Gaslaternen zur öffentlichen Beleuchtung zum Einsatz. Um Laternen mit Gas zu betreiben, müssen Versorgungsrohre verlegt werden. So werden 1814 die ersten Leitungen in London von der „The Gas Light & Coke Company“in Betrieb genommen.
3 Der Kaiser wird beleuchtet Ein Wiener Apotheker macht sein Geschäft in der Kaiserstraße 1816 zum ersten mit Gas beleuchteten Gebäude Wiens.
Kaiser Franz begeistert sich dafür. Er ordnet die Beleuchtung eines öffentlichen Platzes an: Als Ort wird die Walfischgasse inklusive Kärntnertor ausgewählt und beim feierlichen Einzug des Kaisers, der gerade von einer Dalmatien-Reise zurückkehrt, beleuchtet.
4 Von London aufgekauft Die Imperial Continental Gas Association – eine Firma mit Sitz in London – erkennt früh, dass die Zukunft der Energieversorgung in Europas Hauptstädten dem Gas gehören wird. Ab Mitte des 19. Jh. kauft sie auch in Wien mehrere finanziell in Schwierigkeiten geratene private Gaswerke auf und errichtet zahlreiche weitere vom Belvedere bis Döbling. Die Gesellschaft dominiert über Jahrzehnte das Gasgeschäft in Wien, verlangt oft Wucherpreise und beutet ihre Mitarbeiter aus.
5 Die Stadt übernimmt Es sind die Christlichsozialen unter Karl Lueger, dem späteren Bürgermeister, die sich für eine Energieerzeugung unter Kontrolle der Stadt stark machen. 1892 schließlich beschließt Wien den Bau städtischer Gaswerke. 1899 sperrt das städtische Zentralgaswerk in Simmering auf. In den kommenden Jahren entstehen weitere städtische Gaswerke wie in Leopoldau und zahlreiche Gasbehälter. Ab 1911 ist die ganze Stadt ans Gasnetz angeschlossen.
6 Der Kopf im Gasherd Das hochgiftige Stadtgas verursacht nicht nur zahlreiche tödliche Unfälle. Es wird auch von vielen Selbstmördern verwendet. Der Begriff, den Kopf in den Gasherd zu stecken, ist in Wien sprichwörtlich und taucht auch in der Literatur auf. Das Stadtgas wirkt aufgrund seines Kohlenmonoxid-Anteils auch narkotisch und macht es Lebensmüden daher relativ einfach. Die Explosionsgefahr aber ist ähnlich groß wie heute bei Erdgas, also reißen viele Selbstmörder ihre Nachbarn mit in den Tod.
7 Umstieg mit Risiko Der Umstieg auf Erdgas in Europas Großstädten findet ab 1960 statt. In Wien dauert er von 1970 bis 1978 und ist von zahlreichen Problemen begleitet. Nicht nur müssen Tausende Gasthermen ausgetauscht werden, auch Düsen und Dichtungen passen nicht mehr. Da Erdgas trockener ist, werden die bewährten Hanfdichtungen undicht. Die gesamte Umstellung ist von Protesten und öffentlichem Unmut begleitet.