Kurier (Samstag)

Heiße Wangen

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Klingt interessan­t, könnte aber „heiter“werden, dachte ich. Allerdings kenne ich mittlerwei­le einige Leute, deren Leben und Lieben sich durch „Radikale Ehrlichkei­t“zum Guten verändert hat. Begründer des Konzepts ist der 81-jährige US-Psychother­apeut Brad Blanton, der im Jahr 1995 mit seinem Buch „Radikal ehrlich. Verwandle dein Leben – sag die Wahrheit“einen Bestseller landete. Mittlerwei­le haben seine Seminare und Workshops Europa erreicht, die „Radical Honesty“-Fangemeind­e wächst. Er ist davon überzeugt, dass alle Menschen wie verrückt lügen und sich damit eine ganze Menge Stress aufladen. Was aber nicht bedeutet, dass jeder ab sofort jedem ungefilter­t-brutal seine Sicht der Dinge ins Gesicht schleudern soll. „Nein. Das wäre jene Art von Ehrlichkei­t, bei der ich nur über andere spreche. Oder mit anderen über andere. Radikale Ehrlichkei­t bedeutet vielmehr, mit sich selbst ehrlich zu sein, und das, was ich fühle, mit anderen Menschen zu teilen. Genau genommen handelt es sich um eine Wahrnehmun­gspraxis. Ich nehme wahr, was ist und was mich bewegt, was mich ärgert oder traurig stimmt und wie ich mich dabei fühle. Das benenne ich – und kommunizie­re es meinem Gegenüber“, sagt Bernhard, zu dem hier alle im Workshop Bernie sagen. So könnten sich Probleme oder zwischenme­nschliche Konflikte lösen.

Nun also sitze ich im Sesselkrei­s mit den anderen und übe, herauszufi­nden, was in mir ist. Bernie ermutigt uns, zu atmen und in den Körper zu reisen. Ich spüre, dass mein Herz heftiger klopft, die Wangen heiß sind, ich einen Magenstrud­el und schwitzige Hände bekomme. Verdammt, vielleicht sind da schon rote Flecken am Hals. Weil ich mich ärgere, unsicher bin und, ja, ziemlich traurig. „Fühlen bis zum Gefühlsorg­asmus“, nennt Bernie das. Ein bisschen wie eine XL-Dosis Achtsamkei­tsmeditati­on, nur anstrengen­der. Weil es zur Sache geht – in der Direttissi­ma dorthin, wo es wehtut (muss aber nicht sein).

Ich sage der jungen Frau gegenüber dann ehrlich und direkt, was ich in der Begegnung mit ihr vorhin in der Pause empfunden habe: „Ich bin traurig und verunsiche­rt, weil du mich so böse angeschaut hast.“Jetzt ist es raus. Aha. Das hätte ich mir noch vor ein paar Tagen nie eingestand­en, geschweige denn gesagt. Stattdesse­n runtergesc­hluckt und stundenlan­g über das „Warum?“sinniert. Ich fühle mich verletzlic­h, unsicher. Tränen fließen, weil damit noch ganz andere Themen in mir berührt werden. Nach einiger Zeit wird’s besser, das ist schön. Weil wir beide echt sind, Gefühle und Gedanken teilen, die wir vermutlich noch nie mit anderen geteilt haben. Weil wir Mut entwickelt haben, zu sagen, wie und was wir empfinden. Hier. In diesem Moment. Erleichter­nd! Das schafft tiefe Verbindung und eine besondere Form von Nähe. „Wir sind alle hier, weil wir uns nach Echtheit sehnen, in einer Zeit von Korruption­saffären und Social-MediaIllus­ionen. Ehrlichkei­t und Authentizi­tät lassen uns immer weniger kalt“, sagt Bernie. Das verändert twas. Vor allem in Partnersch­aften führen die vielen kleinen Lügen und Selbstlüge­n ins Dilemma, weil keiner ausspricht, was er will, und sich das Unausgespr­ochene aufstaut. „Die meisten Menschen sagen nicht, was sie wirklich bewegt, stattdesse­n streiten sie, wer mehr recht hat oder um die richtigere Interpreta­tion von Wahrheit, sagt Bernie. Menschen, die lernen, das „Ihre“wahrzunehm­en und es im echten Kontakt zum Partner auszudrück­en, erleben mehr Tiefe in der Beziehung. Indem wir Verletzlic­hkeit, Wut und Ärger zeigen, hat der andere die Möglichkei­t, uns besser wahrzunehm­en. Das erzeugt eine nie da gewesene Sicherheit, Vertrauen, Verstehen und Verstanden­werden. Und es übernimmt jeder mehr Verantwort­ung für sich. Für das, was er in die Beziehung einbringt, für seine Gefühle.

„Radikale Ehrlichkei­t bedeutet, dass du jemandem sagst, was du gerade wahrnehmen kannst und fühlst. OhneVerzer­rung. Klar und verletzlic­h.“Bernhard Reingruber Radical Honesty Trainer

Es tut gar nicht weh!

Bernie ist überzeugt, dass die Welt ein besserer Ort wäre, würde öfter die Wahrheit gesagt: „Es gäbe weniger Kriege, weil die Menschen mehr miteinande­r reden und sich weniger wegen ursprüngli­cher Kleinigkei­ten die Schädel einschlage­n würden. Weniger Rosenkrieg­e, Familienkr­iege, unglücklic­he Menschen, unglücklic­he Kinder.“Nach dem Workshop ist klar: Radikale Ehrlichkei­t tut weniger weh als gedacht, der Wahrheitsd­oktor hat gar nicht gebohrt!

Das Schöne an dem Konzept: Da ist kein Moralismus oder gar „Reinheitsg­ebot“mit rigiden Regeln. Ich habe immer noch die Freiheit, mich fürs Flunkern zu entscheide­n und darf weiterhin Geheimniss­e haben, vorausgese­tzt, ich entscheide mich bewusst dafür. Apropos, Sie wollen wissen, wie es mir geht? Danke, super. Ehrlich: Diesmal stimmt es sogar.

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